Das Fukushima-iPhone
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Es gibt Maschinen, die hilfreich sein wollen, in Wirklichkeit aber alles noch schlimmer machen. In Japan gibt es eine noch viel ausgeprägtere Neigung, Dinge durch die Blume auszudrücken, als in Österreich. Besonders deutlich wird das bei Gefahrenhinweisen. Wo hierzulande Aufforderungen in Imperativen ausgeschildert sind („Achtung, dies und jenes keinesfalls tun!“), wird man in Japan stattdessen höfliche und vor allem niedliche Hinweise finden, etwa an den automatisch schließenden Türen der U-Bahn ein weinendes Comic-Männchen, das sich den Finger geklemmt hat, anstelle der bei uns üblichen militärisch prägnanten Verbote.
Und dann gibt es noch die Dinge, die nicht nur über konkrete Gefahren, sondern über diffuse Ängste hinweghelfen sollen. Wie überall lässt sich mit der Angst der Menschen wunderbar Geld verdienen. Die Angst vor Keimen etwa findet in japanischen Produkten wie antibakteriell imprägnierten Büroartikeln ihren Ausdruck.
Messgerät für radioaktive Strahlung
Hier setzt der RDTX-PRO der Firma Scosche an (die eigentlich Audio-Equipment für Autos herstellt). Bei dem Gerät handelt es sich um ein mobiles, schick designtes Messgerät für radioaktive Strahlung nebst zugehöriger App für iPhone und iPod. Wer den Behörden etwas Arbeit abnehmen oder einfach zum persönlichen Vergnügen ermitteln möchte, in welchem Maß seine Umwelt verstrahlt ist, „um die Kontrolle über das persönliche Wohlbefinden selbst zu übernehmen“, kann das mit dem knapp 250 Euro teuren Gadget gefällig vonstatten gehen lassen („Die solide Verarbeitung sorgt für exakte, konsistente Detektion von Gammastrahlung. Das Gerät liegt leicht und kompakt in der Hand“).
Die Messwerte werden komplexitätsreduziert in Ampelfarben als „sicher“, „erhöht“ und „gefährlich“ angezeigt. Fortgeschrittene Nutzer können sich die Ergebnisse auf Wunsch detailliert aufschlüsseln lassen, etwa die Höhe der Strahlendosis, die man anlässlich der aktuellen Messung abbekommen hat.
Und mit dem Kauf der kleinen Maschine spendet man automatisch 10 Euro für die Opfer des schrecklichen Erdbebens und des Tsunami im März 2011 – „das Ziel sind eine Million Dollar.“ Der moralische Kaufanreiz erinnert daran, dass nun auch Gewissensfragen dem technischen Fortschritt unterliegen.
Banalisierung eines Nuklearunfalls
Was mit der Mechanisierung des Anständigseins mit den Spenden-Daueraufträgen für Greenpeace begonnen hat, steht erst am Anfang einer unabsehbaren Entwicklung, die dazu führen könnte, dass man nur noch eine Geste des Wohlwollens zu machen braucht, schon wird sie erkannt und es wird abgebucht. Die Banalisierung eines Nuklearunfalls und seiner gefährlichen Folgen beginnt bei dem Gerät schon damit, dass es als Gadget kategorisiert wird. Es verwandelt ein wolkiges Unbehagen in scheinbar konkrete Messwerte, verharmlost das Problem aber auf das Niveau einer Abgassonderprüfung für die Ölheizung.
Dass es auch ganz anders geht, zeigen die Russen. Vor einiger Zeit verbreiteten sich in russischen Blogs Gerüchte, dass wegen eines Lecks in einem Atomkraftwerk die westlich von St. Petersburg gelegene Atomstadt Sosnovy Bor evakuiert werden müsse (dort steht das älteste AKW vom Tschernobyl-Typ). Anders als zu Sowjetzeiten gibt es inzwischen die Möglichkeit, auf einer öffentlichen Website die Echtzeit-Strahlungsmesswerte rund um russische Nukleareinrichtungen zu inspizieren. Als beunruhigte Bürger damals die aktuellen Messwerte sehen wollten, war die Website aber nicht mehr erreichbar und die Gerüchte kochten erst richtig hoch. Ein Sprecher der Betreiberfirma äußerte die Vermutung, die Website sein Opfer eines von Hackern koordinierten Überlastungsangriffs geworden, einer Distributed Denial of Service-Attacke (DDoS).
Es gibt noch eine alternative Erklärung. Die Reaktoren in Sosnovy Bor haben bereits eine lange Historie von Störfällen, in einem war es kurz zuvor wieder zu einer Notabschaltung gekommen. Das, in Kombination mit der Vorgeschichte und Gerüchten über freigesetzte Radioaktivität veranlasste deutlich mehr Menschen als sonst, auf der Website nach den Messwerten zu sehen. Ein solcher Ansturm aber kommt einer unkoordinierten Hacker-Attacke gleich.
Peter Glaser Zukunftsreich
Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.
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