Peter Glaser: Zukunftsreich

Das Internet abschalten

Am Dienstag gegen 20 Uhr 45 mitteleuropäischer Zeit ging der Internetverkehr zwischen Syrien und dem Rest der Welt innerhalb kürzster Zeit drastisch zurück. Syrien, so war zu hören, sei praktisch vom Internet abgekoppelt. Auf Twitter wurden Aktivisten in Damaskus, Latakia, Idleb, Hama und Alppo zitiert, das Netz sei tot. Etwas später fiel auch das Mobiltelefonnetz weitgehend aus. 19 Stunden später war der Spuk wieder vorbei. Was war passiert? Staatliche syrische Medien sprachen von einer „Störung in einer Glasfaserleitungen". Experten halten diese Erklärung allerdings für unwahrscheinlich.

Kann man das Internet einfach...
Das Muster gleicht den Ereignissen in den ersten Tagen des arabischen Frühlings in Ägypten, als der Mythos vom dezentralen Internet, in dem es kein angreifbares Hauptquartier mehr gibt, ins Wanken geriet. Konnte man das Internet einfach... abschalten? Am Dienstag, den 25. Januar 2011 hatten in Ägypten Demonstrationen für einen Machtwechsel im Land begonnen. Viele der jungen Menschen, die auf die Straße gingen, hatten sich über Facebook und Twitter organisiert. Die äygptische Regierung ließ die Dienste sperren.

Am 27. Januar kurz vor Mitternacht wurde das Land dann fast vollständig vom Internet getrennt. Zwischen 22:12 und 22:25 Uhr Ortszeit verschwanden die fünf größten ägyptischen Internet-Provider einer nach dem anderen aus dem Netz; ausgenommen davon war lediglich ein kleiner Provider, zu dessen Kunden die ägyptische Börse gehörte. Vermutlich waren die Firmen jeweils telefonisch angewiesen worden, ihre Netzverbindungen zu kappen. Ein automatisches System, das alle Provider gleichzeitig abschalten hätte können – den berüchtigten Kill Switch – gab es also nicht.

Das Internet als Regenwurm
Aber was Menschen in Betrieb genommen haben, können Menschen auch wieder außer Betrieb setzen. Zwar ist es praktisch unmöglich, das Internet als Ganzes abzuschalten. Man kann es aber auseinanderbrechen. Das Internet ähnelt einem Regenwurm. Auch wenn man es zertrennt, wird jede der beiden Hälften zwar als eigenes Netz weiterleben – allerdings gibt es keine Verbindung mehr zwischen ihnen.

Für einen gewöhnlichen Nutzer fühlt sich das Netz so an, wie der Begriff World Wide Web es verheißt – wie ein nahtloser, weltweiter Verbund. Wenn er sich von einer Website zur nächsten klickt, spürt der Netznutzer keine überquerten Grenzen. Auf der technischen Ebene besteht das Internet jedoch aus einigen zehntausend voneinander abgegrenzten Teilnetzen, die von Providern, Universitäten oder Firmen betrieben werden. Die Verbindungen zwischen diesen Netzteilen regelt das Border Gateway Protocol (BGP). Es besteht unter anderem aus einer Liste, in die mögliche Routen in andere Teilnetze eingetragen sind.

Das  Datennirwana
Nach den Anrufen von ganz oben änderten die ägyptischen Provider die Einträge in dieser Liste auf etwas, das Netzwerkspezialisten „null route" nennen. Daten im Netz, die einer null route folgen, verschwinden im Nichts. Unter normalen Umständen wird diese Methode angewandt, um Denial-of-Service-Angriffe verpuffen zu lassen, bei denen Rechner mit Anfragen überschwemmt und durch Überlastung in die Knie gezwungen werden sollen. Um 22:26 Uhr waren von den 2.903 normalerweise in der BGP-Liste verzeichneten Routen ins ägyptische Internet nur noch 27 übrig. Nicht nur spezielle Datenströme, sondern fast der gesamte Datenverkehr des Landes wurde nun auf eine null route geschickt. Dasselbe ist nun in Syrien passiert.

Anders als vielfach berichtet hatte es so etwas auch vor Ägypten bereits zweimal in der Geschichte des Internet gegeben – eine einwöchige Abschaltung im Februar 2005 in Nepal, als der damalige König nach der absoluten Macht griff. Und vom 29. September bis 4. Oktober 2007 während anhaltender Proteste in Myanmar (Burma). Beide Male, um die Verbreitung von Informationen zu verhindern.

Morsen statt Mailen
Die Protestierenden in Ägypten ergriffen verschiedene kreative Gegenmaßnahmen, um die Kommuniktionsblockade zu umgehen. In einigen Landesteilen wurden auch Mobilfunk und SMS blockiert, Amateurfunker wichen deshalb auf die altgediente Nachrichtenweitergabe per Morsecode aus. Telefonnummern wurden verbreitet, über die man sich auf altertümliche, aber funktionierende Weise per Modem ins Internet einwählen konnte. Ingenieure bei Google und Twitter starteten einen „Speak To Tweet"-Service, bei dem man auch ohne Internetverbindung gesprochene Nachrichten als Tweets hinterlassen und abhören konnte.

Am 2. Februar 2011 waren die Internetverbindungen in Ägypten wiederhergestellt. Die Totalblockade hatte das Gegenteil dessen bewirkt, was vom Regime beabsichtigt worden war: 20 Millionen Internet-Nutzer hatten zu Hause nichts mehr zu tun, kein Netz – also gingen sie auf die Straße. Am 11. Februar erklärte der ägyptische Staatspräsident Hosni Mubarak seinen Rücktritt.

Die Verzweiflung muß sichtbar bleiben
In Ägypten gab es zwar gewalttätige Auseinandersetzungen und auch Tote, aber keinen Bürgerkrieg. In Syrien ist die Lage anders, für viele Zivilisten in oft ohnehin verzweifelter Lage und für Rebellen sind die Kommunikationsverbindungen von elementarer, auch moralischer Bedeutung. Sie tragen Bilder und Berichte dieses nicht endenden Fortlaufs von Tod und Zerstörung hinaus in die Sichtbarkeit, ein Vorwurf an die Welt. Und so fast selbstverständlich nun in der Wiederholung die "Abschaltung" des Internet bereits erscheint (im November 2012 gab es ein erstes Netz-Blackout in Syrien), so schnell und routiniert sind auch die Gegenmaßnahmen parat: Zwei Stunden nach dem Kollaps des Datenverkehrs verbreiteten die Hacker von Anonymous Nummern und Passworte für die robuste, altgediente Telefoneinwahl ins Netz, per Modem.

"Und glücklicherweise haben die meisten Aktivisten in Syrien eine Satellitenverbindung ins Netz", twittert Jenan Moussa von dem jungen arabischen Fernsehsender Al Alan TV. "Sie haben sich nie wirklich auf das staatliche Netz verlassen."

Wieder down
Am Donnerstag kurz vor 21 Uhr ist das Internet in Syrien erneut abgeschaltet worden. Wie die New York Times berichtet, ist Syrien über drei Seekabel und eine Überlandverbindung in die Türkei an das Internet angebunden. Ein unbeabsichtigtes Blackout könnte es nur geben, wenn alle vier Verbindungen gleichzeitig beschädigt würden. Für einen absichtlichen Eingriff spricht auch, dass sowohl der staatliche Carrier "Syrian Telecommunications Establishment" als auch alle Internetprovider des Landes in demselben Gebäude sitzen.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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