Das schwindende Geheimnis
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Da es noch sichtbare Wände gibt, erliegen viele der Illusion zu glauben, dass diese auch dichthalten. Das Internet aber macht die Begrenzungen und Ränder, die uns noch umgeben, immer durchlässiger. Die Frage, was noch privat ist und was nicht mehr, wird jetzt ständig neu verhandelt. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel findet beispielsweise, es müsse beim Datenschutz eine neue Balance zwischen Sicherheitsbedürfnis und Geschäftsmöglichkeiten gefunden werden: „Entwickeln Sie ein positives Verhältnis zu Daten. Wer nur aus dem Schutzgedanken heraus operiert, der wird an der Wertschöpfung nicht teilnehmen.“
Die Keller und Kisten des Planeten durchstöbern
Immer mehr und immer persönlichere Dinge werden öffentlich getan – und viele Menschen machen begeistert mit. Nur ein paar mäkeln noch, die Grossraumabteile in der Eisenbahn seien doch eine Erfindung der NSA, um ungestört zu telefonieren, müsse man sich jetzt schon in der Toilette einsperren.
Private Schnappschüsse, die früher in Schubladen verblassten, werden auf Fotoplattformen im Netz milliardenfach vor den Augen der Welt ausgebreitet. Was bisher auf den Dachböden, in den Kellern und Kisten des Planeten verborgen war, lässt sich in digitalen Auktionshäusern durchstöbern. Man kann sein Mittagessen fotografieren, es in Echtzeit online publizieren und daneben noch seine Empfindungen ausbreiten. Seine Freunde hat man im Smartphone in der Jackentasche ständig mit dabei. Ganz für sich zu sein ist ein Auslaufmodell.
Telefone haben sich ganz nahe an unseren Körper geschlichen
Die Zeiten, als Telefone noch ins Vorzimmer verbannt waren, sind vorbei. Längst haben sich die Geräte von der Leine gelöst – und sind nun, paradoxer Weise, online. Sie haben sich zu uns ins Wohnzimmer, ins Büro und ganz nahe an unseren Körper geschlichen, zutraulich wie Tiere. So wie der Mensch des 20. Jahrhunderts besorgt nach seinem Tamagotchi gesehen hat, blickt der Zeitgenosse jetzt in kurzen Abständen auf sein Smartphone, wie ein Arzt auf ein intensivmedizinisches Gerät. Hat er eine Viertelstunde keinen der lapidaren Laute vernommen, die das Eintreffen einer neuen Nachricht signalisieren, wird er unglücklich.
Vormals abgeschirmte, private Lebenbereiche weichen einer lichtdurchfluteten Transparenz, in der sich eine Gesellschaft sonnt - oder blinzelnd wiederfindet -, der die Lust am Geheimnis abhanden gekommen zu sein scheint. Ein durch das Netz befeuerter Gesellschaftswandel führt zu einem auf erstaunliche Weise gesteigerten Bedürfnis, Dinge mit anderen zu teilen – oder wie Wilhelm Busch es schon vor 150 Jahren sagte: „Doch guter Menschen Hauptbestreben / ist, andern auch was abzugeben”.
Im Januar 2010 hat Facebook-Gründer Mark Zuckerberg das Zeitalter der Privatsphäre für beendet erklärt: „Wir haben entschieden, dass dies nun die sozialen Normen sind und haben entsprechend gehandelt”, kommentierte er damals die ungefragte Freischaltung von Privatsphäre-Einstellungen im größten sogenannten sozialen Netzwerk der Welt.
Das Verschwinden der Telefonzelle
Wie sich unsere Gesellschaft verändert hat, lässt sich inbildhaft am langsamen Schwinden des Telefonhäuschens ersehen. Mitte des letzten Jahrhunderts war es wirklich noch ein richtiges kleines Häuschen mit Türklinke und Wänden, in das man sich zurückgezogen hat, um fernzusprechen. Im Lauf der Zeit wurden die Miniaturgebäude immer durchlässiger und weniger. Der Türgriff verschwand, stattdessen gab es Schwingtüren und zugige, offene Fussbereiche, wie in öffentlichen Toiletten. An manchen Orten, etwa Flughäfen, reduzierte sich das Telefongehäuse auf den Kasten mit dem Münz- oder Kartenschlitz und gelegentlich kann man seinen Kopf noch zwischen einen kleinen, durchsichtigen Schallschutz links und rechts stecken, um in eine Restprivatsphäre zu tauchen.
Zugleich ließ sich übrigens auch eine gegenläufige Entwicklung beobachten: Die vormals glashellen Innenräume von Autos zogen sich im Lauf der Jahre zunehmend hinter abgetönte Scheiben zurück. Auch beim Umgang mit Daten lässt sich ein solcher Gegensatz erkennen. Einerseits wird immer mehr offener Zugang zu Informationen gefordert (und auch gewährt), andererseits hüllt sich das Individuum aus Sorge um die Kontrolle seiner persönlichen Daten inzwischen oft in eine Daten-Burka.
Es ist, als ob es stets einen gewissen Grundbestand an Intimsphäre geben müsste und sich diese Scheu, wenn sie aus einem Bereich vertrieben wird, in einem anderen wieder entfaltet, wie bei kommunizierenden Röhren. Sogar an den schwindenden Telefonen in der Öffentlichkeit werden manchmal bereits wieder kleine Glasdächer und Seitenscheiben angebracht, die sich dem ungeschützten Kommunizieren mit einer kleinen, materiellen Freundlichkeit entgegenstellen.
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