Peter Glaser: Zukunftsreich

Der Weltenspiegel

Es war ausgerechnet ein islamischer Naturforscher in der Zeit um die erste Jahrtausendwende, der die wissenschaftlichen Grundlagen für das gelegt hat, was später im Mittelalter zur Wahrsagerkugel und dann zum Zunftzeichen des Okkultismus wurde. Ibn Al-Haitham, lateinisch Alhazen, führte am Hofe des Kalifen Al-Hakim in Kairo optische Experimente durch, mit denen er die damals gängige Ansicht widerlegen konnte, vom menschlichen Auge gehe ein „Sehstrahl" aus, der die Umgebung abtaste. Er erkannte die Bedeutung der Linse im Auge und beschrieb die Eignung gewölbter Glasoberflächen zur optischen Vergrößerung.

1240 übersetzte ein italienischer Franziskanermönch Alhazens Werk „Schatz der Optik". Mitbrüder konstruierten und schliffen daraufhin eine halbkugelige Linse aus Quarz, durch die man beim Auflegen auf eine Buchseite die Buchstaben vergrößert sah. Die Dinger fanden danach als „Lesesteine" Verbreitung – es waren die Vorfahren der Lupe. Der britische Franziskaner Francis Bacon beschrieb das Phänomen 1267 und schlug Verbesserungen vor; von Bacon sagt man, er habe die Brille erfunden. (Das Wort Brille leitet sich von Beryll ab, womit heute ein bestimmtes Mineral bezeichnet wird. Im Mittelalter waren damit alle klaren Kristalle gemeint).

Spieglein, Spieglein an der Wand
Als okkultistisches Instrument sollte eine Glaskugel Verborgenes sichtbar machen. Anfangs waren es aus technischen Gründen sehr kleine, polierte Kristallkugeln. Das übernatürliche „Sehen" in der Glaskugel, die sogenannte Kristallomantie, geht auf den jahrhundertealten Aberglauben zurück, nach dem ein Blick in einen transparenten Gegenstand, einen Kristall, einen Spiegel, eine Wasseroberfläche, Geheimnisse enthüllt („Spieglein, Spieglein an der Wand..."). Schon der Philosoph und Theologe Thomas von Aquin erwähnte im 13. Jahrhundert das „Weissagen aus glänzendem Stein".

Die Wurzeln des Verfahrens reichen tief. Von einem mythischen persischen König namens Dschamschid, der um 2500 vor unserer Zeit gelebt und der das Parfüm, den Wein und die Navigation zur See ersonnen haben soll, heißt es, er haben ein „spiegelndes Glas" besessen „das die Welt sieht" oder „die Welt zeigt" – ein dem Heiligen Gral entsprechendes Symbol. Mit seiner Hilfe konnte Dschemschid die okkulten Weltgeheimnisse enträtseln und die geheimen Absichten und Bewegungen der Gegner seines großen Reiches schauen.

Technisches Träumen
Am 1. Jänner 1958 hatte das österreichische Fernsehen den regulären Betrieb aufgenommen – Absichten und Bewegungen aus Nah und Fern und, in Fiktionen verwandelt, aus allen Teilen der Fantasie. Zuvor schon hatten das Kino und die Fotografie aufs Vorzüglichste unter Beweis gestellt, wozu gläserne Linsen taugen. Zukunftsgewandte Autoren wie H.G. Wells hatten die Möglichkeiten des „technischen Träumens" lang vorhergesehen. In Wells „Die merkwürdige Geschichte von Davidsons Augen" von 1897 sieht ein Mann einige Wochen lang bei geöffneten Augen, was auf der anderen Seite der Welt geschieht – eine Vorahnung von CNN und Internet-Livestrams.

In der Erzählung „Das Aleph" nennt der argentinische Schriftststeller Jorge Luis Borges weitere visionäre Frühformen, darunter einen Spiegel, der orientalischen Legenden zufolge Alexander dem Großen gehört haben soll und in dessen Kristall sich das gesamte Universum spiegelte (und den auch Goethe in einem Gedicht erwähnt), sowie den „ Weltenspiegel" von Merlin dem Magier („rund und hohl und gleich einer Welt aus Glas") aus dem englischen Epos „The Faerie Queene", das der Dichter Edmund Spenser, eines der Vorbilder von William Shakespeare, 1590 veröffentlichte.

Der moderne Magier Merlin
Früher haben Kunst und Magie die Menschen in Erstaunen versetzt, heute ist es die Technik. Bezauberungen wie das Fernsehen, das Internet oder abendfüllende Computeranimationen stehen in dieser langen, alten Tradition. So schuf Hollywood mit dem Terminator - einem Wesen, das sich aus flüssigem Metall immer neu transformiert - ein Inbild der alchemistischen Träume des Mittelalters: Gold zu erzeugen und einen Homunculus, einen künstlichen Menschen, beides in einem.

Heute sitzt Merlin der Magier als Programmierer vor einem Monitor-Kristall und läßt, wie seit Jahrtausenden in der Zauberei üblich, mit Hilfe eines kryptischen Brimboriums von Beschwörungsformeln - die nun Programmiersprachen heißen - Tele-Visionen auf dem Glas erscheinen. Aber auch die alten Tricks, die Fantasie durch Sprache in Betrieb zu setzen, funktionieren wie eh und je. Oder?

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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