Die Forschung ist kein Fußballspiel
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Fußball ist einfach. Die Mannschaft, die mehr Tore schießt, hat am Ende gewonnen. Und das bedeutet dann automatisch, dass die andere verloren hat. Über das Ergebnis sind am Ende nicht alle glücklich, aber normalerweise sind sich alle darüber einig.
Viele Leute glauben, das sei in der Wissenschaft auch so. Team Drosten gegen Team Kekulé! Oder Mathematik gegen Epidemiologie! Wenn die Wissenschaft die Suche nach der Wahrheit ist, dann hat man am Ende entweder Recht und gewinnt, oder man hat einen Fehler gemacht und sollte sich schämen. So sind wir das von den Mathematikaufgaben aus unserer Schulzeit gewohnt: Entweder man kommt auf die Zahl, die im Lösungsheft steht, oder man hat sich verrechnet.
Das ist ein völlig falsches Bild von der Wissenschaft. In der Wissenschaft geht es nicht um endgültige Wahrheiten. Meistens geht es darum, durch viele kleine Indizien unsere Vorstellung von der Welt ein bisschen besser, zuverlässiger und umfassender zu machen. Manche dieser Indizien sind fragwürdig. Das ist ganz normal, das ist nichts Böses, das stellt die Zuverlässigkeit der Wissenschaft nicht in Frage. Entscheidend ist das Gesamtbild – und das ergibt sich aus einem fein gewobenen Netz vieler verschiedener Argumente, Fakten und Indizien, die man immer gemeinsam betrachten muss.
Wissenschaft im Ausnahmezustand
In der Corona-Krise ist es besonders wichtig, das im Kopf zu behalten. Denn ausnahmsweise erleben wir nun Forschung in Echtzeit. Wissenschaftliche Daten zu veröffentlichen ist normalerweise eine aufwendige Sache. Die Ergebnisse werden an ein Fachjournal geschickt und dann von ausgewählten Kollegen sorgfältig geprüft. Oft werden dann weitere Experimente verlangt, oder eine Überarbeitung des Manuskripts. Es kann Monate dauern, bis eine wissenschaftliche Entdeckung dann veröffentlicht wird und man möglicherweise in der Zeitung davon lesen kann.
So lange kann in einer Krise niemand warten. Daher diskutieren wir momentan über brandneue Studien, die noch nicht von Fachleuten begutachtet wurden, über wackelige Modelle, unausgegorene Einschätzungen oder bloße Meinungen. Das ist gut so. Die Öffentlichkeit hat jetzt ein berechtigtes Interesse an vorläufigen, noch ungeprüften Daten. Nur sollte sich dann niemand beklagen, wenn ein paar Wochen später manche Dinge anders aussehen, als es zunächst den Anschein hatte. Das ist in der Wissenschaft ganz normal, das war immer schon so – es ist nur Medienkonsumenten bisher nicht aufgefallen.
Harter Kern und weiche Schale
Wichtig ist: Wenn zwei Forscher einander widersprechen, heißt das noch lange nicht, dass einer von ihnen falsch liegt, dumm ist oder sein Fach nicht versteht. Es ist ganz normal, dass unterschiedliche Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, oder dass unterschiedliche Leute unterschiedliche Argumente unterschiedlich überzeugend finden. Gemeinsam kann man dann überlegen, welche weiteren Ergebnisse man noch sammeln muss, um sich zu einigen.
Wissenschaft besteht nicht einfach nur aus simplen Fakten, die alle denselben Grad an Zuverlässigkeit haben. Wissenschaftliche Theorien haben einen zuverlässigen, harten Kern und weichere Randregionen, wo noch viele Fragen offen sind, wo noch geforscht werden muss. Das ist immer so.
Gibt es ein neues Coronavirus? Ja, das gehört zum harten Kern der Wissenschaft, hier besteht kein Zweifel. Ist es gefährlicher als die Grippe? Darüber konnte man vor fünf Monaten noch streiten, heute wissen wir: Ja, es ist viel tödlicher als Influenza. Wie ansteckend sind Kinder mit asymptomatischem Krankheitsverlauf? Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein, da brauchen wir vielleicht noch mehr Forschung. Doch wenn wir darüber noch nicht genau Bescheid wissen, bedeutet das nicht, dass man die anderen Erkenntnisse, die bereits als gut gesichert gelten, ebenfalls anzweifeln muss.
Und in diesem Punkt hat Wissenschaft mit Fußballspielen dann doch wieder etwas gemeinsam: Wenn Fußballfans streiten, ob die ruppige Attacke im Strafraum ein Foul war oder nicht, dann sind sie sich auch über wichtige Grundregeln immer noch einig: Der Ball darf nicht mit der Hand berührt werden, das Tor ist das eckige Ding mit Netz, und Kampfhunde sind auf dem Rasen verboten. Darüber müssen wir nicht diskutieren - auch wenn es im Randbereich der Fußball-Theorie Uneinigkeit gibt.
Meinungsverschiedenheiten in der Wissenschaft als Schwäche der Wissenschaft zu inszenieren ist antiwissenschaftliche Propaganda. Wissenschaft ist lebendig – genau das ist ihre Stärke. Das, worüber gestritten wird, ist lächerlich wenig, verglichen mit der Fülle an solidem Wissen, auf das man sich bereits verlassen kann.
Zur Person
Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen
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