© Vincent Guerault, fotolia

Peter Glaser: Zukunftsreich

Diese ewige Lust auf Technik

In der Geschichte der menschlichen Kulturtechniken war Sex immer eine entscheidende Innovationskraft. Das wird bereits an den ältesten Darstellungen überhaupt deutlich - Frauenfiguren mit gewaltigen Brüsten und Hintern, die erstmals vor etwa 27.000 Jahren aus gebranntem Ton gefertigt wurden. Es dauerte 15.000 Jahre, bis Keramik auch zur Herstellung nützlicher Dinge verwendet wurde, etwa von Krügen.

In einem Liebeslied, in Keilschrift auf Tontafeln verfaßt, instruiert eine sumerische Braut ihren Gatten, wie er seine Hand auf eine „gute Stelle" legen möge. Niedergeschrieben wurde das etwa 4000 Jahre bevor Nina Hagen im Club 2 einem staunenden Publikum anschaulich machte, wie Frauen stimuliert werden möchten und das Medium TV zu einem einsamen Höhepunkt fand.

Als Gutenbergs Druckerpresse im späten 15. Jahrhundert das geschriebene Wort zu den Massen brachte, entdeckten die Drucker schnell, dass die Massen mehr wollten als Bibeln. 1524 wurde ein Buch mit gewagten Gravuren veröffentlicht (und umgehend vom Papst verboten). Es inspirierte einen Italiener namens Aretino zu einer Sammlung erotischer Sonette, der ersten modernen Pornographie. Es folgten Werke wie „La Puttana Errante" („Die umherreisende Prostituierte") von 1531, ein Titel, der offenbar die aktuelle „Wanderhure" inspiriert hat. Diese frühen Pornographien förderten die Entwicklung von Schreibtechniken, die schließlich zum Roman führten – Dialoge, szenische Einstellungen, die Briefform. 1748 erschien der erste pornographische Roman der Weltliteratur, „Fanny Hill".

 

Kaum war die Fotografie erfunden, hob sich der Vorhang zu den nächsten Akten. Viele der frühesten Daguerreotypien Mitte des 19. Jahrhunderts waren pornographischer Natur. Bereits um 1870 gab es die ersten Serien erotischer Stereophotographien. Ein Jahrhundert später fand diese Tradition ihre Fortsetzung in schweinischen Hologrammen und dem vermittels Rotgrünbrille in 3D hervortretenden „Tutti Frutti"-Striptease der Privatfernsehsteinzeit.

Das Kino startete als Kuriosum auf Rummelplätzen. In Guckkästen waren bewegte Bilderfolgen zu sehen, unter anderem von einer Frau, die ihren Rock lüpft. Einer der ersten Filme, den Thomas Edison produzierte, war ein Stück sinnlicher Realismus mit dem Titel „Der Kuß". Mit der Verbreitung des Telefons wurde zum ersten Mal intime Ferne möglich. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurde das Callgirl erfunden, eine Pionierleistung auf dem Gebiet des Teleshopping: Bestellannahme, Zustellung und Produkt in einer Hand. Ende der Neunzigerjahre gaben Amerikaner bereits eine Milliarde Dollar für Telefonsex aus. Und Telefonsex war keine US-Domäne. So stellten die Sanierer des italienischen Medienkonzerns Fininvest fest, dass zwei Drittel aller Telefongebühren, die im höheren Management der damals hochverschuldeten Berlusconi-Firma angefallen waren, für Sex-Gespräche ausgegeben worden waren.

Dass Sex eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung des Videorekorders spielte, belegt eine Studie von John Tierney vom Freedom Forum Center for Media Studies an der Columbia Universität. In den Jahren 1978 und `79, als noch weniger als ein Prozent der Haushalte einen Videorekorder hatten und die großen Filmstudios keinerlei Interesse an der neuen Technik zeigten, waren mehr als 75 Prozent der verkauften Videokassetten Sextapes. Auch der Vorläufer von Video, der Super-8-Film, legte nicht zuletzt mit Hilfe der beliebten dänischen Pornofilmchen einen glänzenden Marktstart hin. Telefonsex, Videokassetten und Privatfernsehen brachten den Pornokonsum aus schmierigen Bahnhofskinos in den privaten Haushalt.

So wie Hardcore-Filme auf Videokassetten verantwortlich waren für die schnelle Einführung der Videorekorder, haben Pornographie auf CD-ROM und im Internet die Akzeptanz der digitalen Medien gefördert. Und wie immer, wenn Sex ein neues Medium okkuppiert und neue Möglichkeiten eröffnet hat, erfolgt nach einer Weile der Rausschmiß. Der Markt wird freigemacht für jene Unternehmen, die saubere Unterhaltung und Produkte für die ganze Familie verkaufen. Ende der Achtzigerjahre schlaffte der boomende PC-Markt erstmals etwas ab und die große Frage für die Computerindustrie war: Wie verkauft man jemandem, der bereits einen Computer hat, einen neuen, teureren Computer? Die Antwort war so einfach wie überzeugend: Man verkauft keine Maschine, sondern eine Philosophie. Menschen hungern nach Weltanschauung. Die Philosophie hieß Virtual Reality (VR) - das Eintauchen in dreidimensionale, künstliche Welten.

Schwupps, gab es Cybersex. Das Cyberpunk-Magazin "bOING bOING" zeigte auf seiner Titelseite eine Frau, in deren Vagina ein Computerkabel steckt. Die vormalige kalifornische Anti-Porno-Aktivistin Lisa Palac führte die Zeitschrift „Future Sex" zu kurzer Blüte - eine Mischung aus Hightech-Heftchen und Herrenmagazin. Leider war Sex in „Future Sex" nicht futuristisch. Unter dem Vorwand abenteuerlicher Liebschaften im Cyberspace inserierten banale Telefonsex-Anbieter.

Marshall McLuhan nannte die Durchdringung von Sex und Technologie einmal einen der „eigentümlichsten Grundzüge unserer Welt." Diese bemerkenswerte Verbindung entspringe „einer wilden Begierde, einerseits die Sphäre des Sex durch maschinelle Technik zu erforschen und auszudehnen, und andererseits Maschinen in einer sexuell befriedigenden Weise zu besitzen."

„Was kann man noch mehr zeigen?", fragten sich die französischen Philosophen Bruckner und Finkielkraut in ihrem Buch „Die neue Liebesunordnung". 1993, in dem Jahr, in dem das World Wide Web in der öffentlichen Wahrnehmung auftauchte, fanden englische Wissenschaftler darauf eine technische Antwort: die Ejakulation des Mannes im Inneren der Frau, aufgenommen durch eine winzige Endo-Kamera. Drei Wochen lang hatte ein Paar sein Liebesspiel im Dienste der Wissenschaft aus dem Körperinneren heraus aufzeichnen lassen. Die Aufnahmen der freudvollen Flutwelle wurden der empörten, aber kolossal interessierten Öffentlichkeit am Bildschirm vorgeführt. Wie Wasser scheint die neugierige Lust der Menschen in jede Pore der technischen Welt einzudringen – um das Menschliche noch in die kältesten, fernsten und flüchtigsten Regionen hinauszutragen.

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Kommentare