Digitale Nachtsinfonie
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Unterwegs mit zwei Freunden aus Japan. Sie sind das erste Mal in Europa. Kazu ist Programmierer, in Tokio hat er ein kleines Internet-Unternehmen. Wenn man schläft, sagt er, weiß man nicht, wie schön es ist, zugleich wach zu sein und zu träumen. Träume sind für ihn nichts Romantisches. Sie haben mit Geschwindigkeit zu tun. Nicht zu schlafen ist die einzige Droge, die meiner Arbeit nützt, sagt er. Die Sache hat natürlich einen Preis. Er brauche Tage, um sich von einer durchwachten Nacht zu erholen. Aber er ist einfach zu gern wach. Er wartet, bis er müde ist und kämpft gegen die Müdigkeit. Für diesen anstrengender Kampf muss er Energien freilegen, die einem gewöhnlich nicht zur Verfügung stehen. Ein Teil davon kommt dann der Arbeit zugute. Programmierer und Dichter ähneln sich darin in vielem. Sie verwenden eine Sprache mit speziellen Begriffen. Sie versuchen, Ausdrücke so kompakt wie möglich zu fassen. Und sie sind gern nachts wach.
Musik, die aus der Nacht kommt
Erst versucht die Müdigkeit, mich zu betäuben, sagt Kazu. Nach einer Weile schläft sie ein, aber ohne mich. Man wird ganz leicht. Dann stellt sich eine traumwandlerische Sicherheit ein - wenn es gut läuft. Es läuft nicht immer gut, aber wenn, dann kann er die symphonischen Geschwindigkeiten des Träumens herüberholen ins Wachsein und die begrenzte Vernunft überschreiten.
Mieko ist eine zierliche Frau mit Dachssträhnen im Haar. In Tokio ist sie eine Berühmtheit, sie ist DJ Mieko. Ihre Spezialität ist die Art von modernster Musik, die aus der Nacht kommt. Etwas, das sie bisher nur vom Plattenteller und aus ihrer Phantasie kannte, breitet sich nun vor ihr in die Dunkelheit aus und liefert einen festen Rahmen gegen das Chaos der Nacht, den Rausch, die dämmrigen Konturen, das Getuschel. Mieko staunt. Wir ziehen von einem halbschattigen Club, in dem in Glasvitrinen außerirdische Lebewesen schwimmen, in den nächsten, in dem es klar und teuer ist. Ein Saal, der auf eckigen Säulen aus Licht steht, das pastellfarbige Leuchten so satt und abgerundet wie die Musik. Alles stemmt sich fröhlich gegen die Lautstärke. Laute Musik fordert lautes Vergnügen. Die Menschen fließen ineinander und die Nacht hört nicht auf.
Kein Zutritt für das Tagesbewusstsein
Während der Programmierer Intuition in der Ruhe der Nacht findet – ein Leuchtturmwärter über einem Meer aus Schlafenden – sucht Mieko jene größtmögliche Form gemeinsamer Ruhelosigkeit, die Musik, Tanz, Nachtleben heißt. Was in der Nacht geschieht – und wie es geschieht – in den von Licht wie von Pflanzen durchwachsenen, von Sounds durchwucherten, von Schatten und Schemen durcheilten Räumen, ähnelt den Regionen in unserem Inneren, in denen die blitzartige Einsicht auf ihre Beute lauert. Nachts wagt die Intuition, das scheue Tier, sich eher hervor als im Hellen. Lautstärke erfüllt die Funktion eines Türstehers: kein Zutritt für das Tagesbewusstsein. Körper bewegen sich in der Musik, wie in Wasser. Nun sind andere Lösungen gefragt – Auflösungen. Konturen verwischen, Körper streifen und drängeln aneinander vorbei. Altes löst sich, Neues öffnet sich.
Die Nacht ist immer zuerst da
In den Schöpfungsmythen der Völker ist die Nacht immer zuerst da, alles andere kommt danach. Die Neuzeit ist eine Geschichte der leuchtenden Städte, die seit dem Gaslicht und der Elektrifizierung den Sieg über die Dunkelheit davongetragen haben. Aber die Nacht ist da wie eh und je, nun ist sie transparent und digital. Das Licht treibt Stollen in die Nacht, in diesem Bergwerk baut man das Funkeln von Eingebungen ab, tiefer als sie bei Tag jemals sein könnten. Wenn man alle Regeln befolgt, alles Wissen eingesetzt und alle redliche Mühe auf eine Sache verwendet hat, ist nächtliche Intuition das, was noch fehlt, um sie zu etwas wirklich Neuem zu machen. Intuition ist ein Überraschungsangriff auf die Logik. Etwas überwältigend Schnelles, Flüchtiges, Produktives, das unlösbar scheinende Aufgaben in einem Augenblick bewältigt.
Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.
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