Mathematik macht schlau
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Wenn jemand glaubt, Uruguay liegt am Schwarzen Meer, dann lachen wir ihn aus. Wenn jemand keine Fremdsprache spricht, dann schütteln wir mitleidig den Kopf. Aber wenn jemand grinsend verkündet, dass er keine Ahnung von Mathematik hat, nicht versteht was eine Quadratwurzel ist und sich ohne Hilfe seines Steuerberaters nicht zutraut, fünfstellige Zahlen zu addieren, dann findet man das irgendwie charmant. Mathe-Ablehnung kann man heute als liebenswerte Eigenheit durchgehen lassen, über die sich bei der Cocktailparty ganz entspannt und offen plaudern lässt. „Ach ja, Mathematik habe ich in der Schule auch immer gehasst“, sagen dann die anderen. „Und wozu braucht man das alles überhaupt, diese Logarithmusintegralvektoren!“
Weg mit der Mathematik?
Es stimmt schon: Die meisten von uns kommen ganz gut ohne Differentialrechnung durch die Woche. Höchst selten kann man mit einem Rotationsparaboloid Leben retten, und kaum jemand hat eine Arcustangensfunktion je in freier Wildbahn gesichtet. Wäre es da nicht besser, den mühevollen Mathematikunterricht einfach zu streichen? Sollen die Kinder nicht lieber Sinnvolleres lernen?
Nein, das wäre fatal. Lasst uns darüber diskutieren, wie man den Unterricht verbessern kann – aber der Wert der mathematischen Bildung selbst darf nicht in Frage gestellt werden. Sie ist heute wichtiger als je zuvor. Wer sich mit Mathematik beschäftigt, lernt logisch denken. Und das brauchen wir dringend.
Das Problem ist: Der Wert mathematischer Bildung ist nicht immer so direkt zu erkennen wie der Wert anderer Wissensgebiete. Wer Französisch gelernt hat, kann in
Frankreich die Speisekarte lesen – das ist ein ziemlich klar sichtbarer Vorteil. Wer gelernt hat, mathematisch zu denken, kann ziemlich rasch erkennen, dass das Leasingmodell für das neue Auto nicht besonders attraktiv ist, dass der reißerische Zeitungsartikel über die neue Laborratten-Krebsstudie aus statistischen Gründen uninteressant ist, oder dass die mageren Reformversprechen von Politikern den Staatshaushalt nicht sanieren werden. Doch solche Fähigkeiten erleben wir als Selbstverständlichkeit, wir sehen sie nicht als Folgewirkung des Mathematikunterrichts.
Umgekehrt, beim Fehlen bestimmter Fähigkeit, ist es ähnlich: Wer im Pariser Restaurant versehentlich Escargot statt Entrecote bestellt, der wünscht sich vielleicht, im Französischunterricht besser aufgepasst zu haben. Wer Defizite im mathematisch-logischen Denken hat, bemerkt das oft gar nicht. Vielleicht hat er ein Leben lang Schwierigkeiten, mit Geld umzugehen. Vielleicht fällt er auf dreiste Betrüger herein, die ihm eine todsichere Roulette-Strategie oder ein logisch unmögliches Wasser-Energetisierungsgerät verkaufen wollen. Vielleicht schreibt er wütende Zeitungskommentare über die Kosten von Flüchtlingsheimen, weil er Millionen mit Milliarden verwechselt. Solchen Leuten ist gar nicht bewusst, dass ihre Probleme mit mangelndem Training im mathematisch-logischen Denken zu tun haben.
Das Fitnessgerät fürs Hirn
„Nun, dann soll man doch genau diese Fähigkeiten trainieren, die man im Leben braucht“, könnte man dann sagen – Logikrätsel statt Integrale, Überschlags-Kopfrechnungen statt Vektor-Kreuzprodukt, Statistiken aus der Zeitung analysieren statt Binomialverteilungen in den Taschenrechner tippen.
Aber das genügt nicht. Wenn man eine komplizierte Fähigkeit trainieren will, zum Beispiel mathematisch-logisches Denken, dann reicht es nicht, einfach nur das zu üben, was man später braucht. Man muss sich nun mal ab und zu durch langweilige, anstrengende, harte Übungen durchquälen.
Im Sport ist es ganz normal. Wenn man ein großartiger Fußballspieler werden will, dann genügt es nicht, einfach nur Fußball zu spielen. Man muss auch Technik- und Krafttrainings absolvieren und sich an ziemlich langweiligen Fitnessgeräten quälen, um in idealer Form zu sein. Wenn der Spieler fragt: „Wozu brauche ich das? Am Fußballfeld gibt es doch gar keine Fitnessgeräte!“, dann wird ihn der Trainer ziemlich bald aus der Mannschaft nehmen. Das Training macht nicht immer Spaß, aber man erwirbt damit Fähigkeiten, die für den Sieg unverzichtbar sind.
Und in der Mathematik muss man auch mühsam trainieren. Man braucht im echten Leben keine Kurvendiskussionen. Aber ein Gefühl dafür, was eine Funktion ist, bringt jeden Tag Nutzen – und das lernt man nun einmal nur durch langweiliges Üben. Der Schwergewichtsboxer trainiert Liegestütze, der Tennisspieler macht Koordinationsübungen mit Gymnastikbällen und wer logisch denken will, macht Mathematikaufgaben.
Natürlich soll man diskutieren, welche Aufgaben wirklich nötig sind. In der Vergangenheit ist der Matheunterricht viel zu oft zum bloßen Dressurakt verkommen, bei dem man ohne jedes tiefere Verständnis eintrainierte Rechenmuster auf immer gleiche Beispieltypen losließ. Das ändert sich gerade, und das ist auch gut so. Aber zu glauben, man könnte den Mathematikunterricht vollständig an Alltagsaufgaben ausrichten, ist ein Irrtum. Auch wenn der Nutzen auf den ersten Blick schwer zu sehen ist: Mathematik üben ist wichtig – es macht uns klüger.
Wenn wir mit Frust auf die mühevollen Übungsstunden unserer Schulzeit zurückdenken, sollten wir nicht vergessen: Wir wären ohne diese Anstrengungen heute weniger schnell und wendig im Kopf. Und in einer Zeit, die so kompliziert ist wie die unsere, in der wir uns einerseits mit komplizierter Technik zurechtfinden müssen und andererseits darauf angewiesen sind, unwissenschaftlichen Unfug, zurechtgebogene Statistiken und Fake News zu erkennen, wäre das wirklich schade.
Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen schreibt er jeden zweiten Dienstag in der futurezone.
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