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9/11: Reagieren, bevor etwas passiert

Nach den Anschlägen vom 11. September galt es dafür zu sorgen, dass so etwas nie mehr passiert. US-Behörden

Daten aus aller Welt, um sie mit denneuesten Technikenzu analysieren. Die rasante Entwicklung des Internet hilft dabei, in den Raum der Vorhersage vorzustoßen. Das Internet stellt der Menschheit nicht nur so viele Daten wie noch nie zuvor zur Verfügung. Über offene Schnittstellen entwickelt sich das Netz auch über die Fusion verschiedener Datenbanken zu einer gigantischen Anwendung, die Antwort auf unterschiedlichste Fragen weiß: Wie stimmte ein Abgeordneter in der Vergangenheit ab? Wie entwickelten sich Aktienindizes? Wie wird das Wetter in einer Woche?

Google selbst wird nachgesagt, über ungeahnt große Macht zu verfügen: Indem es aus dem aktuellen Suchverhalten der Menschen auf Trends schließen kann. Für Suchanfragen mit großem Volumen zeigt Google in seinem Trends-Tool den Suchverlauf der letzten Jahre. Daraus lässt sich auch ablesen, in welchen Ländern, ja Städten das Interesse für bestimmte Themen besonders hoch war. Google verfügt damit für die meisten Länder über eine Art Wahrnehmungsthermometer.

Aufzeichnungen der Zukunft
Interessant ist daher, dass sowohl Google, als auch der CIA-nahe Wagniskapital-Geber In-Q-Tel im vergangenen Jahr in ein kleines Startup mit dem waghalsigen Namen Recorded Future mehrere Millionen investierten. Die Firma beschäftigt sich laut Wired damit, Websites, Blogs und Twitter-Accounts auszuwerten, um Beziehungen zwischen Menschen, Organisationen, Handlungen und Ereignissen herzustellen. Ziel ist es, nicht nur das, was gerade geschieht, abzubilden, sondern auch das, was künftig passieren wird. Recorded Future zeigt auf einer Kurve die Online-Wirkung von Ereignissen und prognostiziert, wie die Kurve sich in der Zukunft entwickeln wird. Bekannt ist eine solche Vorgehensweise schon lange aus dem Wertpapierhandel.

"Terrorismus-Analysewerkzeug"
Recorded Future hat dieses Prinzip aus dem Bereich der Börse in den Sicherheitsbereich übertragen und bietet basierend auf semantischen Auswertungen ein prognostisches „Terrorismus-Analysewerkzeug“ an. Das Tool wertet Ereignis-Typen wie „bewaffnete Überfälle“, „Verhaftungen“ aber auch Begriffe wie „Käufe“ und „Pleiten“ aus. Es verwendet zudem Informationen über Patenteinreichungen und Produktrückrufe aber auch personenbezogene Daten über Arbeitgeber-Wechsel, Ausbildung und Verwandtschaftsbeziehungen. Als Beispiel präsentiert die Firma in ihrem Blog eine Recherche zu der Frage, ob die Hisbollah über Langstrecken-Raketen verfügt– und kommt zu dem Ergebnis, dass dies wahrscheinlich der Fall ist.

Mathematische Regeln für Ereignisse
Der Auswertungsmechanismus kann auf verschiedene Bereiche übertragen werden. Mittlerweile gibt es von Recorded Future auch ein Nachrichtenanalyse-Tool, das von Entwicklern gegen eine Gebühr über eine Schnittstelle verwendet werden kann.

Auch andere Startups versuchen mathematische Gesetzmäßigkeiten aus Statistiken abzuleiten. Sean Gourley, Gründer des kalifornischen Startup Quid , zeigte als Promotionsstudent anhand Echtzeit-Daten aus dem Irak-Krieg, dass der asymmetrischen Dynamik der Aufständischen ein mathematisches Modell zugeordnet werden kann. Mit Quid spürt er nun Technologietrends nach.

Enge Verbindungen zwischen Google und Geheimdiensten
Für Google ist das Engagement bei Recorded Future nicht die erste Berührung mit US-Geheimdiensten. In-Q-Tel finanzierte die Kartenfirma Keyhole, bevor sie von Google 2004 aufgekauft wurde und zum Rückgrat für Google Earth wurde. Keyhole-Produkte wurden zuvor vom US-Militär verwendet. Schon von Jahren nahm der Suchkonzern die Hilfe der National Security Agency (NSA) für die Sicherung seiner Netzwerke in Anspruch.

Google verkaufte außerdem Suchdienst-Server an US-Geheimdienste, damit diese Dokumente leichter durchsuchen konnten. Google und die Geheimdienste gehen im Prinzip denselben Tätigkeiten nach: Massenhaft Informationen aufzufinden und aufzubereiten.

Internetrevolution befördert Open Source Intelligence
Die gemeinsame Förderung von Recorded Future zeigt, dass Geheimdienste nun mit Datamining an den Bereich „Open Source Intelligence“ herangehen. Die Auswertung öffentlich verfügbarer Informationen wurde nicht immer sehr geschätzt, stellte ein Bericht für den US-Kongress (PDF) vor ein paar Jahren fest. So sagte ein Beobachter der Szene: „Offene Quellen wurden als irrelevant betrachtet; die Geheimdienstgemeinde arbeitete lieber mit Spionen und Satelliten“. Gleichwohl schätzte der Geheimdienstanalyst Sherman Kent, dass in Friedenszeiten 80 Prozent der für politische Entscheidungen notwendigen Informationen aus offenen Quellen stammen. Und Samuel V. Wilson, ehemaliger Direktor der Defense Intelligence Agency, schätzte den Anteil sogar auf 90 Prozent: „Der wirkliche Held ist Sherlock Holmes, nicht James Bond.“

Im Zuge der Internetrevolution wurden immer mehr Informationen öffentlich verfügbar. Während früher 20 Prozent der verwendeten Informationen über Russland aus geheimen Quellen stammten, sind es heute 80 Prozent. Außerdem verlagerte sich der Fokus der Geheimdienste nach dem Ende des Kalten Krieges von geheimen sowjetischen Militärprojekten hin zur Analyse verschiedener Bedrohungen. Entsprechend änderten sich auch die Aufklärungsstrategien: Anstatt sich auf die Satellitenaufklärung von militärischen Stützpunkten zu konzentrieren, sammelte man einfach alle verfügbaren Informationen zu Terrorgruppen und so genannten Schurkenstaaten.

2005 wurde das National Open Source Center (NOSC) unter der Ägide der CIA eingerichtet, das täglich Beiträge von elektronischen Zeitschriften und Zeitungen aus aller Welt übersetzt und analysiert. Die Arbeit von NOSC und andere Behörden greift dabei auf die kommerziellen Produkte zurück, die unter anderem auch von In-Q-Tel finanziert wurden. Eine weitere Firma, in die In-Q-Tel investierte, ist Visible Technologies. Sie durchsucht täglich rund 2 Mio. Websites, darunter Blogs und Twitter, Youtube und Amazon. Das Unternehmen Attensity wiederum bereitet unstrukturierte Daten mittels semantischer Analyse so auf, dass sie von den Behördensystemen leichter verarbeitet werden können.

Mustererkennung für die Polizei
Längst werden Prognose-Werkzeuge auch von der Polizei eingesetzt. Die Polizei von Memphis arbeitet seit einigen Jahren mit einer IBM-Software, die auf der Basis von Polizeistatstiken „Hot Spots“ identifiziert, das heißt Orte, an denen es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Straftaten kommt.

Der britische Fernsehsender BBC entwickelte vor einiger Zeit für die Stadt Oxford eine interaktive Polizeikarte. Sie zeigt, wie es zu bestimmten Uhrzeiten an bestimmten Wochentagen zu typischen Vorfällen wie Trunkenheit, Diebstahl oder Falschparken in bestimmten Gegenden kommt. Auf solchen Kriminalitätsmustern basiert auch die Operation „Blue CRUSH“ des Memphis Police Department. Seit 2006 konnten damit Verbrechen um 31 Prozent reduziert werden. Ähnliche Anwendungen wurden auch in Kalifornien, Florida und in Kanada installiert.

Die Anwendung im kalifornischen Santa Cruz basiert auf Rechenmodellen zur Vorhersage von Nachbeben. Sie wertet die Kriminalitätsstatistiken aus mehreren Jahren aus, um Kriminalitätsmuster zu entdecken. Außerdem werden täglich neue Daten eingegeben. Die Vorhersagen sind damit von Woche zu Woche unterschiedlich. Auch hier lassen sich die Erfolge vorzeigen: Die Diebstähle sind im Vorjahresvergleich um 27 Prozent zurückgegangen. Die Polizei hofft angesichts knapper werdender Personalmittel, dass die Vorhersagen eines Tages so gut werden wie Wettervorhersagen.

Erschütterungen im Ereignishorizont
Wie bei allen Zukunftsprognosen bleibt jedoch das Problem der so genannten Wildcards: Es gibt immer Ereignisse, die unvorhersehbar sind, die von der Standardzukunft abweichen. Wild Cards sind Ereigniskarten, die überraschend ausgespielt werden. Es sind Ereignisse von geringer Wahrscheinlichkeit, die jedoch große Wirkung zeigen können. Sie brechen Trends und bringen Zukunftsprognosen durcheinander. 2011 zählt dazu die arabische Revolution, ebenso die Reaktorenkatastrophe von Fukushima. Vielleicht hat am Ende doch Bert Brecht recht: »Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht, und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh’n tun sie beide nicht«? Das Leben ist wohl nicht so determiniert, wie Ereignisstatistiken suggerieren.

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Christiane Schulzki-Haddouti

Christiane Schulzki-Haddouti berichtet seit 1996 als freie IT- und Medienjournalistin über das Leben in der Informationsgesellschaft. Wie digitale Bürgerrechte bewahrt werden können, ist ihr Hauptthema. Die europäische Perspektive ist ihr wichtig – da alle wichtigen Entscheidungen in Sachen Internet in Brüssel fallen.

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