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EU-Forschung

"Jeder hat etwas zu verbergen"

„Ich bin in Südafrika aufgewachsen. Im Jahr 1966, es war der 6.6.1966, ich habe gerade einen Besuch von Robert Kennedy organisiert, hat mein Telefon geläutet. Ich habe den Hörer abgenommen und die Leitung war tot. Ich hörte eine Stimme sagen 'Warte einen Moment, das Tonband ist aus'. Ich weiß, wie es ist, in einem Überwachungsstaat zu leben und es bereitet mir große Sorgen, was gerade in Europa, speziell in England, passiert.“ Ich saß im Publikum, als Julian Kinderlerer im Prunksaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften seine Rede gehalten hat. Mir lief ein Schauer über den Rücken und es war totenstill im Saal.

Professor Julian Kinderlerer bei seiner Rede am ÖAW.
Professor Kinderlerer ist Präsident des unabhängigen Komitees„Ethics of Security and Surveillance Technologies“ (EGE). Dieses Komitee besteht aus fünf Wissenschaftlern, fünf Anwälten und fünf Philosophen, die gemeinsam die EU-Kommission zur Einführung von neuen Überwachungsmaßnahmen beraten. Er war anlässlich der Konferenz „Der Blick der EU-Bürger auf Sicherheit und Überwachung“ in Wien zu Gast. Ein Plädoyer für mehr Sicherheit haben so manche Anwesenden im Saal wohl von einem Berater der EU-Kommission erwartet. Doch was folgte, waren zahlreiche warnende Worte vor der Einführung von mehr Überwachung.

"Warum steht Sicherheit über allem?"

„Sicherheit bedeutet, Leute zu schützen, um Werte wie Freiheit und Demokratie zu erhalten, so dass jeder ein Leben ohne Angst genießen kann. Doch am Flug von Südafrika nach Wien waren keine Flüssigkeiten an Bord erlaubt. Das hat meine Freiheiten eingeschränkt“, so Kinderlerer. „Warum steht Sicherheit plötzlich über allem? Nichts ist sicher. Wo bleibt der Respekt für Grundwerte wie Freiheit, Demokratie, Würde und Privatsphäre?“ Kinderlerer erzählte, dass als die EGE ihre Arbeit aufgenommen hatte, sich keiner der 15 Personen zuvor ausführlich mit dem Thema Überwachung beschäftigt hatte. Umso schockierter seien sie am Ende gewesen, von dem, was sie rausgefunden haben.

Überwachung und das Konzept von nationaler Sicherheit kennen Bürger gut von früheren Polizeistaaten. Was derzeit etwa in Großbritannien passiert, ist extrem bedenklich. Das GCHQ arbeitet mit der NSA mehr zusammen, als mit anderen Geheimdiensten in Europa. Vor wenigen Tagen wurde außerdem bekannt, dass Gespräche von Nationalratsabgeordneten mit Inhaftierten sowie Gespräche von Anwälten mit Inhaftierten abgehört worden sind. Mit dieser Praxis werden Grundrechte von Individuen massiv verletzt“, sagte Kinderlerer - während des Talks, sowie beim Journalistenhintergrundgespräch, das im Anschluss stattfand.

"Big Brother Gesellschaft"

In Großbritannien gebe es zudem 51.600 CCTV-Überwachungskameras, die Gesichtserkennung aus einer Entfernung von rund einem Kilometer bewältigen können, zudem gebe es 100.000 Extra-Kameras an Schulen und 200 davon in Toiletten und Umkleidekabinen sowie eine Million Kameras auf Privatgrundstücken. „Großbitannien wird zur Big Brother Gesellschaft“, sagte Kinderlerer.

Neben Staaten würden auch Unternehmen mehr Informationen sammeln, als uns lieb ist. „Wer sagt, dass diese Informationen nicht auch mit Staaten geteilt werden? Das passiert gerade“, so Kinderlerer. „Mit Daten wird gehandelt, wie auf einem Bazar. Man weiß nicht mehr, welche Informationen gesammelt werden und mit wem diese geteilt werden.“ Überwachung verhindere aber, dass Menschen mit neuen Ideen experimentieren würden, es gehe viel Pioniergeist verloren, so Kinderlerer.

"Jeder hat etwas zu verbergen"

Zu verbergen habe außerdem jeder etwas, so Kinderlerer. Als Beispiel, dass jeder etwas zu verbergen habe, führt Kinderlerer die Google-Suche nach Krebs an. „Es ist vielleicht noch unbedenklich, wenn man im Internet nach Krebs sucht, weil die Krankheit muss einen nicht gleich persönlich betreffen. Aber was ist, wenn man im Anschluss in einem Online-Shop eine Perücke bestellt? Will man in so einem Fall, dass das sofort öffentlich bekannt wird?“

Der EU-Kommission empfiehlt die EGE daher Folgendes: Jede einzelne Technologie, die das Potential hat, die Privatsphäre von Menschen zu verletzen, müsse im Einzelfall bevor sie zum Einsatz kommt genau auf ihren Nutzen überprüft werden. „Und das ist etwas, das wir derzeit nicht sehen“, so Kinderler. Überwachungsmaßnahmen sollten nur dann zum Einsatz kommen, wenn sie notwendig, verhältnismäßig und effektiv seien und wenn es gar keine Alternativen dazu gibt. Ob die EU-Kommission diese Ratschläge befolgen wird, ist ungewiss.

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Barbara Wimmer

shroombab

Preisgekrönte Journalistin, Autorin und Vortragende. Seit November 2010 bei der Kurier-Futurezone. Schreibt und spricht über Netzpolitik, Datenschutz, Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Social Media, Digitales und alles, was (vermeintlich) smart ist.

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