Netzpolitik

"Nichts in der Wikipedia ist in Stein gemeißelt"

Claudia Garad ist seit sechs Jahren Geschäftsführerin des Vereins Wikimedia Österreich. Der Verein setzt sich für freies Wissen in der Wikipedia ein. In Österreich gibt es derzeit 1435 aktive Autoren, die an der freien Enzyklopädie mitschreiben. Die futurezone sprach mit Garad über die Probleme, die die freie Enzyklopädie mit politischer Einflussnahme hat.

Wikipedia gilt als Hort des Wissens. Wie neutral sind die gesammelten Informationen?
Claudia Garad: Die deutschsprachige Wikipedia hat eine große Community, die aus vielen verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten besteht. Da kann man davon ausgehen, dass sich bei langen, gut ausgearbeiteten Artikeln durch die Vielfalt der Meinungen eine gute Neutralität ergibt. Das ist ein wichtiges Prinzip unserer Community, dass man sich Themen so objektiv wie möglich annähert.

Und wie sieht es in der Praxis aus?
Natürlich ist keiner frei von Vorurteilen, das wissen wir alle. Die Diversität der Community schlägt sich aber in den Ansichten nieder. Bei der Wikipedia kann man außerdem in den Diskussionsseiten nachsehen, wie das Resultat des Beitrags zustande kam. Das gibt es bei Büchern oder anderen Publikationen in dieser Form nicht. Je größer die Community, desto mehr Neutralität kann man sich erwarten.

In Österreich gibt es 57 sehr aktive Editoren, die mehr als 100 Beiträge pro Monat bearbeiten. Ist die Community in Österreich groß genug, um Einmischungen standzuhalten?
Ich glaube, in der deutschsprachigen Wikipedia haben wir noch genug Menschen, die mitwirken. Wir müssen aber schauen, dass wir die Zahl stabil halten. Das Wissen, das angesammelt wurde, ist groß. Das muss auch gepflegt werden. Natürlich müssen wir auch Menschen für freies Wissen begeistern.

Warum spenden Leute lieber Geld an die Wikipedia, anstatt selbst mitzuarbeiten?
Für viele Menschen ist es ungewohnt, dass sie nicht nur konsumieren, sondern mitgestalten können. Bei vielen größeren Beiträgen ist es so, dass diese schon gut ausgearbeitet sind und das macht es nicht gerade einfacher, etwas zum Allgemeinwissen beizutragen. Da muss man zuerst seine Nische finden. Oft hat man daher das Problem, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll.

Claudia Garad, Wikimedia-Geschäftsführerin

Wie schwierig ist es bei politischen Inhalten, das Crowdprinzip aufrechtzuerhalten? Gibt es da einen Unterschied?
Definitiv. Vor allem dann, wenn es heiß her geht in Wahlkämpfen. Bei politisch aufgeladenen Situationen, bei denen jeden Tag eine Neuigkeit hinzukommt, können sich Lager Schlagabtäusche liefern. Das führt manchmal dazu, dass solche Artikel vorübergehend von langjährigen Autoren gesperrt werden, bevor sie wieder editiert werden können. In Zeiten des Wahlkampfs wird generell sehr viel moderiert und das wirkt sich vorteilhaft auf den Inhalt aus. Es gelingt oft, eine gemeinsame Wahrheit auszuhandeln in dem Prozess.

Gibt es konkret in Österreich den Versuch einer politischen Einflussnahme auf die Wikipedia?
Auszuschließen ist es nicht. Die sehr populären Artikel stehen unter dem besonderen Augenmerk von der Community. Man müsste sehr viel Zeit investieren, um das richtig gut zu machen. Man braucht einen Account, den man über Jahre pflegt und man muss sich längerfristig einarbeiten.

Was bedeutet das genau?
Bei der deutschsprachigen Wikipedia werden Beiträge von neuangemeldeten Nutzern nicht automatisch freigeschaltet, sondern diese werden zuerst von einem Moderator kontrolliert. Das ist auch eine Barriere, die dafür sorgen soll, dass nicht jeder Verschwörungstheoretiker etwas reinstellen kann und es sofort sichtbar wird. Das ist bei der englischsprachigen Wikipedia anders.

Oft wird davon gesprochen, dass wir bereits in einem postfaktischen Zeitalter leben, bei dem die Wahrheit mehr mit „glauben“ als mit „wissen“ zu tun hat. Wirkt sich das auf die Wikipedia aus?
Dadurch, dass bei uns alle wichtigen Thesen und Aussagen mit Quellen belegt werden müssen, ist es extrem schwierig, eine emotionale Debatte über die Wikipedia zu streuen. Mit Meinungen oder Hörensagen kommt man nicht weiter. Es werden nicht alle Quellen als gleichwertig angesehen. Solange Wikipedia faktenbasiert arbeitet, tun wir uns leicht, damit umzugehen. Es ist aber natürlich die Frage, in welchem Maß dieses „wissen“ oder dieses „glauben“ eingetragen wird.

Es wird also immer häufiger versucht, Sachen reinzuschreiben, die nicht belegbar sind?
YouTube und Twitter haben mehrfach dazu aufgerufen, dass man Wikipedia zum „Fact Checking“ heranziehen soll. So wurden Trolle auf die Wikipedia aufmerksam. Das ist für die bestehende Community auf jeden Fall eine große Herausforderung. Ich höre immer wieder Klagen aus der Community, die sagen, dass das nicht lustig sei und sich fragen: Wieviel wollt ihr uns noch zumuten?

Bei manchen eingefleischten Wikipedianern kommt es aber vor, dass diese nur ihre Meinung zulassen. Manche Beiträge sind in der deutschsprachigen Wikipedia etwa fest im Griff einer einzigen Person.
Wenn man davon als Beitragender betroffen ist, lassen sich solche Konflikte nur von einem Schiedsgericht lösen. Das ist ein gewähltes Gremium von Freiwilligen, die zweimal im Jahr Härtefälle bearbeiten. Das sind dann Themen, die in der Community und von der Community behandelt werden.  

Die Wikipedia hat sich für Relevanzkriterien als Qualitätsmaßstab bei Biografien entschieden. Als Journalist muss man etwa eine leitende Position haben oder Auszeichnungen erhalten haben, als Autor muss man mindestens zwei eigenständige Werke in einem Verlag veröffentlicht haben. Sind diese Kriterien im heutigen Zeitalter noch relevant?
Relevanzkriterien kann man immer wieder in Frage stellen. Nichts in der Wikipedia ist in Stein gemeißelt. Man muss die Relevanzkriterien als ein Mittel sehen, mit denen die Community versucht, der Fülle des Wissens Herr zu werden. Sie sollen dafür sorgen, dass die Wikipedia nicht zum Herold wird. Das war bei einer Enzyklopädie noch nie so.

Es gibt in der Praxis weit weniger weibliche Führungskräfte als Männer, sowie weniger Künstlerinnen, die bereits eine Einzelausstellung hatten als Männer. Schließt man mit diesen Kriterien daher bestimmte Gruppen aus?
Natürlich reproduzieren diese Kriterien bestehende Missverhältnisse. Das sind aber Barrieren und Missverhältnisse aus der realen Welt, gegen die wir nicht viel tun können. Wenn es zu Frauen weniger Quellen gibt, reproduzieren wir diese ebenfalls. Das war etwa auch bei der Physik-Nobelpreisträgerin Donna Strickland so. Bis zum Zeitpunkt des Nobelpreises gab es keine öffentlich verfügbaren Quellen über ihre Person. Dagegen können wir nicht viel tun, weil es ein gesellschaftspolitisches Missverhältnis ist.

Auch bei den Wikipedia-Autoren liegt der Frauenanteil nur bei 10 bis 15 Prozent. Wie kann man da von Diversität sprechen?
Das ist eine der großen Herausforderungen, mit denen wir umgehen müssen. Diversität hat mehrere Dimensionen. Was die Altersstruktur angeht haben wir etwa eine schöne Zusammensetzung von Studenten bis Pensionisten. Aber im Hinblick auf Frauen gibt es noch einiges zu tun. Manche Faktoren liegen in unserer Macht, andere nicht. Wir können Zugangsbarrieren erleichtern und Zeit investieren. Aber auf die Art und Weise, wie dann in der Praxis auf der Wikipedia miteinander umgegangen wird, haben wir nur wenig Einfluss.

Es gibt auch regelmäßig Edit-a-thons, die Frauen ermutigen sollen, sich als Autorinnen einzubringen

Wie baut man Zugangsbarrieren ab?
Unser Community-Manager hat etwa ein sehr erfolgreiches Neulings-Projekt laufen mit Freiwilligen der Caritas. Wir versuchen dabei Online-Volunteering in klassische Freiwilligenprojekte einzubringen. Bei dem Projekt haben wir einen hohen Frauenanteil und es ist sehr erfolgreich. Da haben wir eine Quote von 100 Prozent, die dabeigeblieben sind und weiter editieren. Das skaliert aber natürlich nur sehr schwer. Wir hoffen, dass wir mit solchen Kooperationen in Österreich dazu beitragen können, dass wir neue Menschen gewinnen können, die an der Wikipedia mitarbeiten.

Was macht der Wikimedia-Verein in Österreich noch alles?
Wir haben verschiedene Programme und Kooperationen, bei denen es darum geht, die Community zu vergrößern. Das Caritas-Projekt gehört etwa zur Freiwilligenförderung, wo es darum geht, die Gemeinschaft zu unterstützen. Es gibt auch Wettbewerbe und Stipendien. Wir haben auch eine Partnerschaft mit dem Bundesdenkmalamt. 96 Prozent des österreichischen Kulturerbes ist auf der Wikipedia dokumentiert. Wir helfen dabei, Denkmalschutz ins digitale Zeitalter zu überführen. Außerdem engagieren wir uns in der Netzpolitik und arbeiten hier auch mit anderen Organisationen zusammen.

Woher kommt das Geld?
Der Großteil unserer Finanzierung sind Spenden, sogenannte Kleinspenden zwischen 5 und 20 Euro. Das Budget bekommen wir von der Wikimedia Foundation aus den USA, die die Gelder international an alle Länderorganisationen weiterverteilt. Wir freuen uns aber auch über direkte Spenden an unseren Verein, damit wir sicherstellen können, dass wir österreichspezifische Inhalte verwirklichen können.

In Österreich wurde die Wikipedia auch selbst mehrfach politisch aktiv, etwa um gegen Uploadfilter in der EU zu protestieren. Diese wurden von der EU nach langen Verhandlungen beschlossen. Gibt es Auswirkungen auf die Wikipedia?
Die Wikipedia selbst ist von den Uploadfiltern zwar ausgenommen, das heißt aber nicht, dass es keine Auswirkungen hat. Je vielfältiger die Quellen und Materialien, desto besser ist das für freies Wissen. Es ist außerdem nicht ganz klar, wie es mit unseren Schwesterprojekten ausschaut. Die Wikipedia ist untrennbar mit Wikimedia Commons und Wikidata verbunden. Dort liegt die Zukunft von freiem Wissen. Wir sehen insgesamt problematische Entwicklungen, unter denen die Wikipedia leiden kann.

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Barbara Wimmer

shroombab

Preisgekrönte Journalistin, Autorin und Vortragende. Seit November 2010 bei der Kurier-Futurezone. Schreibt und spricht über Netzpolitik, Datenschutz, Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Social Media, Digitales und alles, was (vermeintlich) smart ist.

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