Magic Leap One im Hands-On: Hype zum Angreifen
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Warum überschüttet man ein Start-up, von dem man nicht einmal weiß, was es tut, mit hunderten Millionen US-Dollar? Fast vier Jahre lang - von 2010 bis 2014 - blieb diese Frage unbeantwortet, während Konzerne wie Google und Qualcomm mehr als 500 Millionen US-Dollar in das mysteriöse Magic Leap investierten. 2014 deckte Gizmodo mithilfe von Jobausschreibungen und Patentanträgen auf, dass das Unternehmen wohl an einer “Google Glass auf Steroiden” arbeite, die virtuelle Objekte in der Wirklichkeit abbilden kann - eine Augmented-Reality-Brille, ähnlich wie Microsofts HoloLens.
Auch danach hielt sich Magic Leap bedeckt und gewährte nur sporadisch einen Blick hinter den Vorhang. Jede noch so kleine Information befeuerte die Hype-Maschine, sodass viele Branchen-Insider bereits an die nächste große Revolution nach dem Smartphone glaubten. 2018 folgte die große Enthüllung - und Ernüchterung. Die Magic Leap One, die erste Augmented-Reality-Brille des Start-ups, wirkt auf den ersten Blick wie Microsofts HoloLens und ist noch dazu relativ kostspielig (ab 2295 US-Dollar). Doch warum glauben dennoch so viele namhafte Unternehmen und Investoren an Magic Leap, das mit 2,3 Milliarden US-Dollar so viel Risikokapital wie kaum ein anderes Start-up einsammeln konnte? Die futurezone durfte die Magic Leap One ausprobieren - und ist begeistert und enttäuscht zugleich.
Rutschende Schwimmbrille
Eigentlich ist die Magic Leap One nur in ausgewählten US-Städten (Chicago, Los Angeles, Miami, New York, San Francisco und Seattle) verfügbar, dank guter Kontakte konnte das auf AR-Anwendungen spezialisierte Tiroler Unternehmen HoloLight zwei Geräte nach Europa holen. Eines davon konnte die futurezone in Wien ausprobieren. Optisch erinnert die Magic Leap One an eine Science-Fiction-Schwimmbrille. Während die HoloLens auf ein großes Frontvisier aus einem Stück Glas setzt, hinter dem sich die beiden Wellenleiter-Displays (eines pro Auge) befinden, ist das Sichtfeld bei der Magic Leap One deutlich eingeschränkt. Da die Brille recht eng am Gesicht anliegt und die runden Linsen kompakt sind, fehlt nahezu das komplette periphere Sichtfeld und der Kopf muss gedreht werden, um alles zu sehen. Das könnte unter anderem ein Problem für den industriellen Einsatz darstellen, wie HoloLight anmerkt.
Die Brille kann relativ einfach angelegt werden. Dazu wird einfach der Kopfbügel mit etwas Kraftaufwand nach hinten gedrückt, wodurch dieser in die Länge gezogen und der Durchmesser vergrößert wird. Das Headset lässt sich dann einfach aufsetzen, der Bügel passt sich an den Kopfdurchmesser an. Leider fällt hier der Druck zu gering aus, im Test begann das Headset bei raschen Bewegungen immer wieder zu rutschen. Ein Stellrad, wie bei der PlayStation VR, mit dem das Headset etwas enger gestellt und fixiert werden kann, fehlt leider. Die gepolsterte Innenseite sorgt aber für guten Tragekomfort und bereitete trotz sommerlicher Temperaturen keinerlei Probleme.
Power aus der Hosentasche
Ein weiteres Problem: Da die Brille relativ nah am Gesicht aufliegt, kann man keine Brille darunter tragen. Bei der Microsoft HoloLens ist das möglich. Magic Leap liefert zwar einen Rahmen für Linsen mit, der Käufer muss die passenden Linsen aber selbst bei einem Optiker bestellen und einsetzen lassen. Zudem ist die Lösung relativ unflexibel, bei einem anderen Brillenträger mit stärkerer oder schwächerer Sehschwäche erweist sich der Einsatz als nutzlos. Auf Kopfhörer kann man dank integrierter Lautsprecher verzichten, optional lassen sich diese aber über einen 3,5-mm-Klinkenstecker anschließen. Die integrierten Lautsprecher verrichten ihre Arbeit aber erstaunlich gut, die Außenwelt bekommt trotz des offenen Designs kaum etwas davon mit. Die ungewöhnliche Lösung verstärkt zudem den Mixed-Reality-Effekt, da sich ungestört Geräusche aus realer und virtueller Welt miteinander vermischen.
Damit sich der Nutzer frei durch den Raum bewegen kann, ist im Gegensatz zu vielen modernen VR-Systemen kein PC erforderlich. Stattdessen wurde die komplette Hardware in ein handflächengroßes Gerät verpackt, das Magic Leap “Lightpack” nennt. Darin befinden sich Nvidias Tegra X2 (ein Hexacore-Chipsatz mit Pascal-GPU, der bislang vorwiegend bei Fahrassistenz- und Infotainment-Systemen in Autos zum Einsatz kam), acht Gigabyte Arbeitsspeicher und 128 Gigabyte an internem Speicher (davon 95 Gigabyte verwendbar). Als Betriebssystem kommt der Android-Fork Lumin OS zum Einsatz, das SDK dahinter bezeichnen zumindest die Entwickler von HoloLight als einfacher erlernbar als jenes der HoloLens.
Kurzes Vergnügen
Das Lightpack ist relativ leicht und lässt sich dank eines Clips einfach an der Hosentasche oder am Gürtel befestigen. Das Kabel zum ist kompakt und geriet beim Test nie in die Quere - zumindest solange man es an der Rückseite vorbeiführte. Etwas unpraktisch ist jedoch, dass sich auch die Power-Taste und Lautstärkeregler am Lightpack befinden und nur schwer ertasten lassen. Der 36,77-Wh-Akku wird über einen USB-C-Anschluss am Lightpack geladen. In der rund einen Stunde langen Hands-On-Session konnte die Ausdauer des verbauten Akkus nicht auf die Probe gestellt werden, laut HoloLight hält eine Akkuladung aber rund 2,5 Stunden. Magic Leap selbst gibt die Laufzeit mit drei Stunden an. Optional besteht auch die Möglichkeit, dank USB-PD (Power Delivery) die Laufzeit der AR-Brille mit Akkupacks zu verlängern.
Das einzige weitere Zubehör, das ebenfalls geladen werden muss: Der Controller. Magic Leap orientiert sich hier am Branchen-Standard und liefert einen Handgriff-ähnlichen Controller mit Schultertaste, klickbarem Touchpad sowie einer Taste für das Hauptmenü mit. Dieser erfasst dank elektromagnetischem Tracking auch ohne externe Sensoren (wie zum Beispiel bei der HTC Vive) die Position des Controllers im Raum.
Besser als die HoloLens
Soweit zur technischen Basis, doch wie erzeugt die Magic Leap One virtuelle Objekte in der Wirklichkeit? Das grundlegende Funktionsprinzip ist ähnlich wie bei der HoloLens. Über einen Projektor an der Seite wird ein digitales Bild in seine Bestandteile zerlegt und auf Wellenleitern in das Sichtfeld des Nutzers übertragen. Mithilfe verschiedener Sensoren, beispielsweise Infrarotkameras und Eye-Tracking, wird das Bild an den Nutzer, seine Blickrichtung und den Raum angepasst, sodass es den Anschein erweckt, das virtuelle Objekt sei Teil der Realität.
Das Besondere an Magic Leaps “Photonic Chip” - so nennt das Start-up die Technologie hinter seinen Wellenleiter-Bildschirmen - ist, dass zwei Ebenen, bestehend aus je drei Schichten an Wellenleitern (einer für jeden Farbkanal - rot, grün, blau), mit verschiedenen Fokusebenen zum Einsatz kommen. So kann die Magic Leap One auch Tiefenschärfe gut simulieren und erzeugt oftmals erstaunlich realistische virtuelle Objekte. Auch in anderen Bereichen zeigt sich die Magic Leap One von einer besseren Seite als Microsofts HoloLens.
Virtuelle Objekte werden zwar weiterhin leicht transparent dargestellt und waren so leicht als solche erkennbar, dennoch wurden Farben deutlich kräftiger dargestellt und wirkten plastischer. Auch die Erkennung von Oberflächen fiel deutlich besser als bei der Konkurrenz aus - zumindest solange diese möglichst eben waren. Bei leicht gewölbten Oberflächen, wie beispielsweise der Sitzfläche eines gepolsterten Sessels, schwebte ein von uns platzierter virtueller Ritter etwas in der Luft. Auch der Scan des Raumes und das Erstellen des Mesh (ein virtuelles Drahtgittermodell der Realität) gelang überraschend schnell. Hier sollte man aber darauf achten, dass sich nach dem Scan im Raum nichts mehr verändert, denn das digitale Modell bleibt stets gleich. So wird ein verschobener Stuhl nicht als Hindernis für ein virtuelles Objekt erkannt, auf der alten Position bleibt aber ein “unsichtbares Hindernis” zurück.
Mehr, aber noch nicht ausreichend
Auch beim Sichtfeld übertrumpft man die HoloLens deutlich. Horizontal deckt man 40 Grad ab, vertikal 30 Grad, womit das Sichtfeld knapp 45 Prozent größer ist als jenes der HoloLens (H: 30 Grad, V: 17,5 Grad). HoloLens-Nutzer dürften das als Verbesserung wahrnehmen, im Alltag stößt man aufgrund des vergleichsweise großen menschlichen Sichtfeldes (H: 220 Grad, V: 150 Grad) aber nach wie vor rasch an Grenzen. Immer wieder tauchen Objekte erst spät oder abgeschnitten im sichtbaren Bereich auf und zerstören so die ansonsten sehr gelungene Illusion. Magic Leap empfiehlt daher Entwicklern in seiner Dokumentation, möglichst kleine virtuelle Objekte zu verwenden, damit diese stets vollständig dargestellt werden können. Hier muss die AR-Branche aber ohnedies noch größere Sprünge machen, um für andere Einsatzgebiete tauglich zu sein.
Apropos Entwickler: Die Auswahl an Apps, die Magic Leap “Experiences” nennt, ist derzeit noch stark begrenzt. Die wohl mächtigste App ist “Create”, bei dem man frei 2D- und 3D-Objekte im Raum platzieren kann. Was zunächst langweilig klingt, macht Magic Leap durch interaktive Elemente extrem unterhaltsam. So kann man mit verschiedenen Bauteilen eine Rakete nach eigenen Wünschen zusammenstellen, Wälder auf dem Tisch pflanzen, einen Dino gegen einen Ritter kämpfen lassen und viele andere virtuelle Objekte aus der Bibliothek im Raum verteilen. All das funktioniert relativ instinktiv über den mitgelieferten Controller und dem darauf verbauten Touchpad, mit dem Objekte frei gedreht und in ihrer Größe angepasst werden können.
Alternativ unterstützt die Magic Leap One aber auch Gesten. Während Microsofts HoloLens derzeit auf zwei Gesten beschränkt ist - der “Air Tap” zum Klicken und “Bloom” zum Öffnen des Start-Menüs - verfügt die Magic Leap One zum Start bereits über acht Stück und kann theoretisch über das SDK auch nach Belieben erweitert werden. Doch diese werden nicht immer zuverlässig erkannt, wie sich in der mitgelieferten Demo-App für Gesten und der interaktiven Musik-App “Tónandi” zeigte. In diesem AR-Musikvideo erkundet man eine virtuelle Fantasiewelt, die im Raum platziert wird, während im Hintergrund Musik der isländischen Post-Rock-Band Sigur Rós läuft. Die psychedelischen Szenen lassen sich schwer beschreiben, die Musik passt sich jedoch an die Handlungen des Nutzers an. Um voranzukommen, muss man bestimmte Gegenstände berühren und diese mit vermeintlich intuitiven Gesten auslösen. Gelegentlich liefen wir aber relativ hilflos durch den Raum, weil uns die App keinerlei Hinweise gab, was zu tun ist. Tatsächlich wurden aber nur die erforderlichen Gesten nicht zuverlässig erkannt.
Die App ist aber dennoch gut gelungen und ist neben “Create” wohl die eindrucksvollste Anwendung für die Magic Leap. Das fehlende haptische Feedback beim “Berühren” der virtuellen Objekte gleicht man beispielsweise über die Musik aus - es fühlt sich tatsächlich wie eine “magische” Erfahrung an. Abgesehen davon sind derzeit lediglich Standard-Apps verfügbar, mit denen sich beispielsweise 2D-Fenster im Raum platzieren lassen, auf denen Browser, Bildergalerie oder Videochat angezeigt werden. Bei diesen Apps werden aber eher die Schwächen der AR-Brille deutlich, einen Mehrwert bieten die virtuellen Bildschirme nicht.
Ein kleiner Schritt für Augmented Reality, ein großer für Magic Leap
Angekündigte Revolutionen finden selten statt. Die Magic Leap One scheint ein weiterer Beweis dafür zu sein. Ignoriert man jedoch die absurden Erwartungen, die das Unternehmen im Vorfeld geschürt hat - unter anderem mit einem gefälschten Produktvideo - stellt die Magic Leap One ein durchaus gelungenes Debüt dar. Die AR-Brille lässt die Konkurrenz-Modelle von Microsoft, Meta und anderen Herstellern in allen Belangen deutlich hinter sich und zeigt, was bereits möglich ist. Lediglich bei der App-Auswahl muss man derzeit noch mit einer beschränkten Auswahl leben - es handelt sich aber auch erst um die an Entwickler gerichtete Creator Edition.
Von der Massentauglichkeit ist Augmented Reality weiterhin weit entfernt, auf absehbare Zeit wird es wohl vorwiegend in der Nische Platz finden. Doch schenkt man Magic Leap Glauben, könnte das Unternehmen schon bald mit einem günstigeren, technologisch deutlich weiterentwickelten Modell folgen, das das Ende der Smartphone-Ära einläuten könnte. Ein gewagtes Unterfangen, vor allem da Microsoft, Apple, Google, Facebook und Snapchat bereits deutlich mehr Entwickler hinter ihren AR-Plattformen vereinen konnten. Eine gehörige Prise Skepsis ist daher angebracht - bei allem, was Magic Leap kommuniziert.
Disclaimer: Die Magic Leap One wurde für einen Test vom auf Augmented-Reality-Entwicklung spezialisierten Unternehmen HoloLight zur Verfügung gestellt, das bereits AR-Anwendungen für zahlreiche namhafte Firmen entwickelt hat.
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