Kontroll-Software für CERN kommt aus Österreich
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Das Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, kurz CERN, bei Genf ist das größte Kernforschungslabor der Welt. In einer gigantischen unterirdischen Anlage, die teilweise in der Schweiz, teilweise in Frankreich liegt, werden seit 1954 die kleinsten Bausteine des Universums untersucht. Forschungsinstitutionen aus 21 Ländern sind daran beteiligt. 2300 Mitarbeiter und tausende weitere externe Wissenschaftler arbeiten hier mit einigen der komplexesten Maschinen auf der Welt. Gesteuert und kontrolliert wird das alles mit Software aus Österreich.
Strom, Kühlung, Daten
Die Firma ETM aus Eisenstadt ist seit 18 Jahren Partner des CERN. Seit 1997 kommt die Software PVSS von ETM im Kernforschungzentrum zum Einsatz. 2007 wurde ETM von Siemens übernommen. Die Software trägt nun den Namen SIMATIC WinCC Open Architecture (OA). Bei WinCC OA handelt es sich um eine SCADA-Software, was für Supervisory Control And Data Acquisition steht. Man kann sich darunter eine digitale Plattform vorstellen, die vom Anwender (etwa dem CERN) für die Kontrolle und Steuerung sämtlicher Betriebsbereiche eingesetzt wird.
Im CERN wird mit WinCC OA etwa die Stromversorgung, die Kühlung oder der Datenstrom der Experimente überwacht. Die Anforderungen sind enorm. Das CERN hat einen Strombedarf von bis zu 200 Megawatt, etwa so viel wie der Kernreaktor eines Flugzeugträgers erzeugen kann. Um Supraleiter-Bedingungen für die Teilchenbeschleuniger des CERN herzustellen, müssen Leitungen auf -271 Grad Celsius oder zwei Grad Kelvin über dem absoluten Nullpunkt heruntergekühlt werden. Die Experimente der Forschungseinrichtung wiederum erzeugen 15 Petabyte an Daten pro Jahr und müssen mit Hochgeschwindigkeit an bis zu 200 Computerzentren in aller Welt verteilt werden.
Größter Anwendungsfall
SCADA-Lösungen müssen extrem skalierbar sein. Alleine die vier großen Detektoren des Large Hadron Collider (LHC - der größte Teilchenbeschleuniger des CERN) besitzen mehr als eine Million Steuerkanäle. An solche Dimensionen angepasst wird WinCC OA durch den Anwender selbst. Die Software liefert zwar spezielle Module, die der Kunde benutzen kann, die Programmierung übernimmt der Kunde selbst. "Man kann sich das Ganze wie Excel vorstellen", meint Geschäftsführer Bernhard Reichl. Das Programm könne erst dann arbeiten, wenn man es befüllt. ETM liefert einzig das Rahmenwerk bzw. die Lizenz für dessen Benutzung und unterstützt Kunden bei der Umsetzung ihrer Pläne damit.
Das CERN ist bis heute der größte Anwendungsfall für WinCC OA. Die Kontroll-Software ist allerdings auch bei anderen Großprojekten maßgeblich. Unter anderem wird der erst kürzlich eröffnete Gotthard-Basistunnel in der Schweiz mit der Software aus Österreich überwacht, die Wiener Fernwärmekraftwerke arbeiten damit oder die Strahlenbehandlungseinrichtung MedAustron. Unternehmen aus verschiedensten Bereichen, etwa Transport, Energie, Wasser oder Gebäudetechnik, setzen WinCC OA ein.
Besuch im Kontrollraum
Bei einem Besuch im CERN sollten Kunden von ETM das Potenzial der Software erfahren. Dazu wurden auch heimische Medienvertreter, auch die futurezone, eingeladen. Im Cern Control Centre (CCC) und im Kontrollraum des ATLAS-Experiments wurde das Produkt in Aktion gezeigt. Das CCC ist ein großer Saal, in dem vier runde Kontrollbereiche wie ein Kleeblatt aufgefächert sind. Ein Bereich ist alleine der Stromversorgung gewidmet, einer dem Kühlsystem, einer dem Teilchenbeschleuniger Super Proton Synchrotron (SPS) und einer dem LHC.
In jedem Bereich umgeben dutzende Computerbildschirme die Mitarbeiter. Auf ihnen flimmern Leistungswerte, Verlaufskurven und Schaltdiagramme. Zehn bis 20 Mitarbeiter bevölkern den Saal. Sie besetzen nur einen Bruchteil aller vorhandenen Arbeitsplätze. Die Teilchenbeschleuniger SPS und LHC sind während des Besuchs nicht in Betrieb. Die Computer laufen auf dem Betriebssystem Linux. WinCC OA unterstützt aber auch Windows. Jeder CERN-Mitarbeiter kann sich mit seinen Zugangsdaten in dem Programm einloggen. Was er darin machen kann, hängt von den Berechtigungen ab, die ihm von den Administratoren verliehen wurden.
Eiffelturm unter der Erde
Auch im Kontrollraum von ATLAS ist die Lage ruhig. ATLAS ist ein riesiger Teilchendetektor, der rund 100 Meter unterhalb des Gebäudes direkt am 27 Kilometer langen Ring des LHC sitzt. Innerhalb des Detektors werden zwei gegenläufige Partikelströme vereint. So werden gezielt Kollisionen herbeigeführt, etwa zwischen Helium-Atomen. Beim Zusammenprall werden kleinste Elementarteilchen, etwa Quarks, Elektronen oder Myonen erzeugt und von verschiedenen Ebenen des Detektors erfasst. Die Kernforscher trachten danach, dabei möglichst ungewöhnliche Phänomene zu entdecken, etwa das so genannte Higgs-Boson.
ATLAS ist einer der vier großen Detektoren des LHC und ein Beispiel für die Ausmaße der Maschinen, die in den Kontrollräumen überwacht werden müssen. Der Supraleiterstrang des LHC wird bei ATLAS durch einen liegenden Zylinder mit 40 Meter Länge und 25 Meter Durchmesser geleitet. Die Maschine ist 7000 Tonnen schwer - so viel wie der Eiffelturm in Paris. Bei aller Gigantomanie haben die Programmierer im Kontrollraum nicht auf ein wenig Spaß verzichtet. Wird der LHC mit Gasatomen gefüttert ("flushed"), die in den vier Detektoren zusammenprallen sollen, ertönt im ATLAS-Kontrollraum über Lautsprecher das Geräusch einer Toilettenspülung.
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