Wie Superspreader die Corona-Pandemie antreiben
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Es geschah Anfang März, als das neue Coronavirus zwar schon im Gespräch, der Alltag aber noch frei von Beschränkungen war. Fast 80 Mitglieder der Berliner Domkantorei probten gemeinsam in einem Saal, wie Chormitglied Hanna Töpfer erzählt. "Wir saßen nebeneinander." Auch Lautstärke sei von den Sängern stellenweise gefragt gewesen: forte, fortissimo. "In den nächsten Wochen haben knapp 60 Teilnehmer von Corona-Symptomen oder einem positiven Test berichtet", sagt Töpfer. Im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass eine der Sängerinnen Kontakt zu einem bestätigten Fall gehabt hatte. Vermutlich verbreitete sie Sars-CoV-2 unter den Sängern weiter. Das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin arbeitet den Fall derzeit auf.
Was aller Wahrscheinlichkeit auch bei der Chorprobe passierte, hat sich als eines der Muster der Corona-Pandemie herauskristallisiert: ein Anlass, Dutzende Ansteckungen, womöglich Hunderte Folgefälle. Bekannt wurden in Deutschland so unter anderem die "Kappensitzung" in Gangelt in NRW und Starkbierfeste in Bayern. International ähnelt sich das Bild: Vom Après-Ski in Tirol bis hin zu einem Clubbesuch in Südkorea, auf den rund 200 Infektionen zurückgehen sollen. Hierzulande sind Großveranstaltungen zwar noch immer verboten. Mit den Lockerungen in vielen Bereichen könnten sich dem Virus allerdings neue Chancen bieten.
Hohe Reproduktionszahl
Fachleute sprechen von sogenannten Superspreadern, wenn jemand bei einem Anlass viel mehr Menschen ansteckt als zu erwarten wäre. Auf Deutsch könnte man sie Superverbreiter nennen. Bei Sars-CoV-2 nehme man an, dass ein Infizierter ohne Gegenmaßnahmen durchschnittlich drei andere Menschen anstecken würde, sagt der Infektiologe Bernd Salzberger vom Universitätsklinikum Regensburg. Eine exakte Grenze, ab wie vielen Ansteckungen man als Superspreader gilt, gebe es nicht. Oft könne im Nachhinein auch nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden, ob wirklich alle Fälle auf eine Quelle zurückgehen.
Das Phänomen macht jedenfalls deutlich, dass die sogenannte Reproduktionszahl bei Sars-CoV-2 täuschen kann: Liegt der R-Wert zum Beispiel bei 1, heißt das, dass ein Infizierter im Durchschnitt im Schnitt einen anderen Menschen ansteckt. Als Laie mag man sich darunter eine gleichmäßige Ausbreitung vorstellen. Wissenschaftler nehmen allerdings bei Sars-CoV-2 inzwischen eine deutliche Ungleichverteilung an: Dass wenige Leute ganz viele andere Menschen anstecken, die meisten Infizierten hingegen niemanden oder nur wenige Menschen, wie der Virologe Christian Drosten kürzlich im NDR-Podcast zusammenfasste. Je nach Schätzung machten 20 Prozent der Infizierten - oder noch weniger - 80 Prozent der Ausbreitung aus.
Superspreading ist wie russisches Roulette
Superspreading existiert unterschiedlich stark ausgeprägt auch bei anderen Krankheiten. Auch Tiere können Superspreader sein, wie RKI-Infektionsepidemiologe Udo Buchholz sagt. Insbesondere beim Sars-Ausbruch 2002/2003 rückten Superspreader in den Fokus: Damals brachte ein infizierter Arzt den Erreger aus der südchinesischen Provinz Guangdong, wo die Krankheit schon Monate kursierte, in ein Hongkonger Hotel. Von dort breitete sich das Virus mit Reisenden wohl in zahlreiche Länder aus.
Drosten verglich die Treiber-Funktion der Massenverbreiter im NDR mit einer Partie russisches Roulette: Die meisten Infizierten sorgten für so wenige Ansteckungen, dass es eine Weile nicht auffalle. Irgendwann aber komme die Kugel im Revolver: im übertragenen Sinne ein Superspreader, von dem explosionsartig Infektionsketten ausgehen. Drosten wertet diese Art der Ausbreitung in der aktuellen Pandemie als Chance, ohne Impfstoff glimpflich durch Herbst und Winter zu kommen. Weil man gezielt gegen Superspreading vorgehen könne, wie das Beispiel Japans gezeigt habe.
Voraussetzungen für Superspreading
Aber woran liegt es, dass nur manche Menschen so extreme Virenschleudern sind? Komplett verstanden ist das noch nicht. "Superspreading ist wahrscheinlich eine Mischung aus Eigenschaften einer Person und der Situation", sagt Salzberger. Voraussetzung ist demnach ein Infizierter, bei dem sich das Virus gerade stark im Rachen nahe der Stimmbänder vermehrt, der eine laute Stimme hat und der über genügend Schleim zur Tröpfchen- und Aerosolbildung verfügt. Letzteres sei ein Kriterium, das ältere Menschen mit eher trockenen Schleimhäuten weniger zu Superspreadern mache, schildert Salzberger. Wie Buchholz vom RKI ergänzt, gibt es auch gesunde Menschen, die beim Atmen und Sprechen von Natur aus mehr Partikel ausstoßen als andere.
Wer allerdings zum hochansteckenden Zeitpunkt zu Hause sitzt - bei Corona ist das nach derzeitigem Kenntnisstand wohl oft der Tag vor Symptombeginn -, wird eher kein Massenverbreiter. Neben einem Anlass gelten auch die Zahl der Kontakte und das Verhalten als entscheidend: "Singen und lautes Sprechen sind die besten Wege, um ein Aerosol zu erzeugen", sagt Salzberger. Aerosole sind feinste Tröpfchenkerne, die im Gegensatz zu größeren Tröpfchen längere Zeit in der Raumluft schweben können. Vermutet wird derzeit, dass ein guter Teil der Corona-Ansteckungen darauf zurückgeht - gerade in Situationen wie Chorproben und Gottesdiensten, bei denen Teilnehmer nicht nur einige Minuten zusammen verbringen.
Superspreading auch per Tröpfchenübertragung
Superspreading kann Experten zufolge aber auch über Tröpfchen passieren, obwohl diese schneller zu Boden fallen als Aerosole, man einem Infizierten für eine Ansteckung also recht nah kommen muss. Ein Beispiel dafür wäre eine Bar, in der die Gäste bei einem infizierten Barkeeper bestellen. Generell gilt laut Studien für Sars-CoV-2, dass Ansteckungen in Räumen sehr viel wahrscheinlicher sind als im Freien.
Gerade beim Chorsingen wie im Berliner Fall kämen begünstigend noch Faktoren wie dauerndes tiefes Ein- und Ausatmen hinzu, sagt RKI-Experte Buchholz. Er betont, dass ein Superspreader-Event auch durch die Anwesenheit besonders anfälliger Gruppen gekennzeichnet sein könne: "Dann braucht es eine geringe infektiöse Dosis, um viele anzustecken." Als anfällig dürften bei einer neu auftretenden Krankheit wie Sars-CoV-2 die allermeisten Menschen gelten, zumal es keinen Impfstoff gibt. Die Einzelfälle müssten gut epidemiologisch aufgearbeitet werden, sagt Buchholz. Neben der Berliner Chorprobe habe das RKI ein halbes Dutzend ähnlicher Ereignisse im Visier.
Die Berliner Chormitglieder sollen für das Institut nun Fragebögen ausfüllen, auch eine Untersuchung auf Antikörper ist geplant. Diese gelten als Hinweis auf eine durchgemachte Infektion. Bei den Infizierten habe es das ganze Spektrum an Verläufen gegeben, sagt Hanna Töpfer: Manche hätten fast gar nichts gehabt, andere auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Inzwischen sei zum Glück niemand mehr in der Klinik. "Wir haben mit Online-Proben angefangen."
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