Das digitale Immer
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„Wenn ich früher aus dem Haus ging“, erzählt der junge syrische Autor Aboud Saeed in seinem Buch „Lebensgrosser Newsticker“, „sagte ich niemandem Bescheid, und wenn ich wieder heimkehrte, ... grüsste ich niemanden. Bei uns zu Hause grüssen wir einander nicht, außer an den Festtagen.“
Einen solchen Ort gibt es auch im Netz. Er heisst Facebook. Oder Twitter. Das Fehlen der Angewohnheit erscheint so selbstverständlich, dass es niemandem mehr auffällt: Man grüßt nicht, wenn man Facebook betritt und man verabschiedet sich nicht, wenn man wieder geht. Man ist einfach immer da, ob als schweigende Präsenz all dessen, was man bisher von sich gegeben hat, seines „Profils“ also, oder als „Statusmeldung“, die sich weich ausrollt auf den Bildschirmen derer, mit denen man auf diesem Weg verbunden ist. Status, früher ein Haus, ein Auto, ein Pferd, meint heute die frischeste Äußerung, die man online getan hat.
Jederzeit wie Old Surehand wieder verschwinden
Das Reizvolle an der Online-Kommunikation ist für viele gar nicht das Echtzeitige, das atemlos macht, sondern im Gegenteil die Ungebundenheit dem ständigen Geschehen gegenüber. Man gesellt sich formlos zu seinen „Freunden“ und „Followern“ und kann jederzeit, wie Old Surehand, wieder grußlos in die Prärie verschwinden, ohne dass einem das jemand übelnehmen würde. Es ist ein gemeinschaftlicher Bewußtseinsstrom, an dessen Ufern man sich aufhält. Eine Zeitung, mit der man sprechen kann, und sie ist unaufhörlich. Urzeitphänomene wie „Sendeschluß“ kennen junge Mediennutzer nicht mehr.
Ich schaute aus dem Fenster. Draußen im Hof saß wie ein schönes, scheues Tier das Frühlingslicht auf dem kalten Glanz der Steine. Dann stand es auf und ging weg.
Die gmeinschaftliche Freiheit, zu tun was mas man will
Wenn sich jemand auf Facebook doch einmal verabschiedet, fühle ich mich peinlich berührt, wie bei einem öffentlich geführten Mobiltelefonat, bei dem einem unverlangt Privates zugetragen wird. „Gute Nahaacht ihr Lieben!“ bringt in die gemeinschaftliche Freiheit, kommen und gehen zu können wann man will, plötzlich wieder die Enge eines Kinderzimmers. Und in Wahrheit ist die ganze vermeintliche Freiheit vom Grüßen und Verabschieden von dieser Enge umfaßt.
Nichts wird Heranwachsenden heute schwerer gemacht als erwachsen und unabhängig zu werden. Die Wohngemeinschaft, früher als Übergang zwischen der Nestwärme des Elternhauses und den kühlen Herausforderungen der Selbstverantwortung gedacht, ist nun zu Facebook, der Online-WG, geworden, die man nicht mehr verlassen kann. Sie ist in der Jackentasche im Smartphone immer mit dabei. Der Abschied aus der Adoleszenz ist damit nur noch schwer möglich. Ich sage deshalb manchmal: Facebook ist die Zigarette des 21. Jahrhunderts.
Eine neue Identität als Online-Wesen
Die sogenannten Sozialen Medien machen uns gegenwartssüchtig. Sie geben uns eine neue Identität als Online-Wesen, und die Erfindung dieser neuen Identität ist das, was ein System wie Facebook so immens erfolgreich macht. Auch die Zigarettenindustrie hatte Erfolg mit einer neu geschaffenen Identität: dem Raucher. Wer diese Identität ablegen wollte, hatte - neben dem physischen Entzug - vor allem damit zu kämpfen, dass er plötzlich ein „Nicht-“ war, ein Nicht-Raucher. In Wahrheit ist, wer das Rauchen aufgibt, wieder ein Luftatmer, aber das ist so selbstverständlich, dass es niemandem mehr auffällt.
Damals, als es noch Anfang und Ende gegeben hatte
Ich rief mir ein Taxi, ich musste noch los. Der Fahrer war Bosnier. Er war Rechtsanwalt in Tuzla gewesen, dann war da kein Recht mehr gewesen, schließlich war er wegen seiner Kinder und seiner Frau doch noch geflohen. „Es ist nicht so schlimm, dass die Kanzlei und alles weg ist”, sagte er freundlich. „Aber mit meiner Bibliohek habe ich meine Identität verloren.” Bücher noch von seinem Vater und Großvater, er hatte jedes gekannt. „Über 1300 Bücher”, sagte er freundlich. Abschied aus dem Wort, einer Heimat.
So fuhren wir los, zwei Männer aus der Zeit, in der es noch einen Anfang und ein Ende gegeben hatte, und fuhren in eine Zeit, die damit beginnt, dass nichts mehr aufhört. Dazwischen, wie die Scherben einer eingeschlagenen Scheibe, lag das Licht des Tages.
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