US-Start-up Spritz beschleunigt das Lesen
Können Sie sich noch an die Szenen im Film "Matrix" erinnern, in denen die Protagonisten Neo und Trinity auf Knopfdruck innerhalb von Sekundenbruchteilen ganze Kampfsportarten oder die Bedienung eines speziellen Hubschraubertyps erlernen konnten? Das gleichsame Einschießen von Informationen in das eigene Hirn - wenngleich mit ein wenig mehr intellektuellem Aufwand - kommt einem vielleicht auch bei einer neuartigen Lesemethode namens "Spritz" in den Sinn.
Eine durchschnittliche Person kann in der Minute 250 Wörter lesen. Diesen Wert zu erhöhen hat sich das in Boston beheimatete Start-up Spritz zum Ziel genommen. Mit einem selbst entwickelten Verfahren soll man schnell auf das Level von geübten Lesern (300 bis 350 Wörter pro Minute) oder sogar darüber hinaus kommen. Erreicht werden soll das durch ein aufblinkendes Staccato an Wörtern in einem kleinen Textfenster.
Starre Augen
Die Bewegung des Auges von Wort zu Wort und von Zeile zu Zeile nimmt laut Spritz 80 Prozent der Lesezeit in Anspruch. Der Zeitaufwand für das intellektuelle Verstehen eines Wortes beträgt dagegen nur 20 Prozent. Erkenntnisse wie dieses gewann das Unternehmen in einer dreijährigen Forschungsphase, die der Veröffentlichung des Konzepts voranging.
Vor allem der deutsche Spritz-Mitbegründer Maik Maurer und sein Kollege Matthias Klein tüftelten an der Technischen Universität München an einer neuartigen Lesemethode. Wie in einem Blogeintrag erklärt wird, wurde eine bereits bekannte Technik namens "Rapid Serial Visual Presentation" (RSVP) herangezogen. Dabei werden Wörter hintereinander eingeblendet. Anstatt eine Seite zu durchstreifen verbleibt das Auge in einem eingeschränkten Bereich.
Bei Spritz wird RSVP um ein wichtiges Detail ergänzt: Die Optimal Recognition Position (ORP). Dieser stellt jenen Punkt innerhalb eines Wortes dar, an dem das gesamte Wort mit dem geringsten Aufwand erkannt werden kann. Das Auge soll dabei möglichst wenige minimale Positionsanpassungen, so genannte Sakkaden, vollziehen. Der optimale Erkennungspunkt wird bei Spritz in Form eines roten Buchstabens in jedem Wort markiert.
Dieser rote Buchstabe bildet einen stabilen Bezugspunkt, auf den die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Die Position des roten Buchstabens bleibt innerhalb des Lesefeldes (von Spritz "redicle" genannt) stabil. Längere zusammengesetzte Wörter werden bei Spritz in ihre Einzelkomponenten zerlegt. Die maximal angezeigte Wortlänge beträgt 13 Zeichen.
Kleine Displays
Genau dieser geringe Platzbedarf soll Spritz zu Erfolg bei verschiedensten Anwendungsszenarien verschaffen. Die Technologie wurde etwa bereits in die Smartwatch Galaxy Gear 2 integriert. Auf kleinen Displays sollen Texte künftig ins lesende Auge "gespritzt" anstatt mühsam herumgescrollt werden. Neben Smartwatches soll Spritz auch auf anderen Wearable-Geräten, etwa Google Glass, verbreitet werden.
Die Ambitionen des Start-ups sind groß. Die schnelle Lesetechnik soll künftig auf einer Vielzahl an tragbaren Geräten, auch Smartphones und E-Reader, zum Einsatz kommen. Aber auch ganz andere Szenarien sind denkbar, etwa in der Werbung oder auf Informationsdisplays in der Öffentlichkeit.
Spritz integriert deshalb unabhängige Entwickler in seinen Expansionsplan. Sie sollen Anwendungen für eine Vielzahl an Betriebssystemen, Webseiten und Hardware-Produkten entwerfen. Blinkende "redicles" sollen zur weitverbreiteten Textdarstellungs-Alternative werden. Laut dem US-Start-up ist das Interesse an einer Lizenzierung der Technologie bereits groß.
Auf dem Mobile World Congress in Barcelona wurde Spritz als Technik vorgestellt, die eine neue Form des Lesens auf digitalen Displays erlaubt, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Im Gegensatz zu Papier bieten diese andere Darstellungsmöglichkeiten, die bisher jedoch wenig ausgenutzt wurden. Statt von links nach rechts und von oben nach unten zu schweifen, soll der Blick auf einem roten Bezugspunkt verharren - und zwar möglichst entspannt.
Verständnisfrage
Laut Spritz soll die neue Form des Lesens ziemlich schnell erlernbar sein. Zu Beginn sollte man mit dem üblichen Lesegeschwindigkeits-Standard von 250 Wörtern pro Minute beginnen. Wer dabei flüssig mitlesen kann, kann schrittweise Gas geben: 300, 350, 400, 450, 500 oder noch mehr Wörter pro Minute werden dann angezeigt. Und vielleicht auch gelesen. Ob der gesamte Text dabei auch verstanden wird, steht auf einem anderen Blatt - um die analoge Sprache zu bedienen.
Lesegeschwindigkeit bedeutet nicht Leseverstehen. In der Wissenschaft wird zwischen guten und schwachen Lesern und schnellem und langsamem Lesen unterschieden. Zwischen der Geschwindigkeit und dem Verständnis besteht üblicherweise ein reziproker Zusammenhang. Manche Menschen lesen langsamer und benötigen mehr Zeit, um gelesenen Text vollständig zu verstehen. Eine Beschleunigung des Lesevorganges beschleunigt aber nicht unbedingt auch das Verständnis.
Bei der Verwendung von Spritz muss man sich die Frage stellen, welche Art von Texten man damit lesen will. Wer sich in Roman-Dialoge hineinversetzen möchte, oder den Rhythmus von Gedichten spüren will, der könnte mit dem spritzigen Lesen seine Probleme bekommen. Wer sich innerhalb kürzester Zeit einen Überblick über einen Fachartikel verschaffen will, für den stellt das Werkzeug schon eine sinnvollere Option dar.
Benutzer des neuen Samsungs-Smartphones Galaxy S5 sowie der Galaxy Gear 2 Smartwatch werden zu den ersten zählen, die Spritz in der Praxis testen können. Die schnellere Art des Lesens könnte einem aber schon bald an einer Vielzahl von Orten begegnen.