Die Weltmeister-Formel gibt es nicht
Mystische Rauchschwaden erheben sich Richtung Himmel. Ein mexikanischer Hexenmeister mit stilechtem Rauschebart beschwört den Azteken-Gott Ometéotl, um das Resultat des bevorstehenden Fußballspiels herauszufinden. Das Ergebnis des bizarren Rituals ist erstaunlich: Mexiko werde Deutschland im ersten Spiel mit eins zu null besiegen, lässt die Azteken-Gottheit ausrichten. Wenige Tage später zeigt sich: Ometéotl hatte Recht gehabt.
Auch anderswo versucht man, die Fußballergebnisse der Weltmeisterschaft vorherzusagen – nicht mit magischen Brandritualen, sondern mit Wissenschaft. Mehrere professionelle Statistik-Teams, darunter die Datenspezialisten von Nate Silver auf „FiveThirtyEight.com“, haben Modelle entwickelt, mit denen man die Ergebniswahrscheinlichkeiten der Weltmeisterschafts-Spiele berechnen kann. Sie alle gaben dem deutschen Team eine deutlich höhere Gewinnchance als Mexiko. Lagen sie also falsch? Ist magisches Räucherstäbchenbeschwören nun also verlässlicher als die Statistik? Ist der Azteken-Gott Ometéotl doch mächtiger als die moderne Wissenschaft?
Natürlich nicht – man muss nur verstehen, wie Wahrscheinlichkeits-Vorhersagen richtig einzuordnen sind.
Einfache Modelle für komplexe Phänomene
Wir sind es gewohnt, dass die Wissenschaft eindeutige Fakten liefert: Wenn ich den Abstand zwischen Erde und Mond ausrechne, dann ist das Ergebnis eine Zahl, keine Wahrscheinlichkeit. Diese Zahl muss überprüfbar sein, und wenn das Messergebnis nicht mit meiner Berechnung übereinstimmt, dann wurde meine Rechnung widerlegt und ich hatte Unrecht.
Aber manche Dinge lassen sich nicht exakt berechnen – nicht weil die Wissenschaftler zu blöd oder zu faul sind, sondern weil die Wirklichkeit komplexer ist als die Modelle, mit denen wir sie beschreiben. Manchmal kann die Wissenschaft nur Wahrscheinlichkeiten liefern. Das ist beim Wetterbericht so, bei Lottoziehungen und auch bei Fußballspielen.
Das Falsifikations-Prinzip
Nun gibt es aber den wichtigen Grundsatz, dass eine Aussage nur dann wissenschaftlich ist, wenn sie überprüft und widerlegt werden kann. Sind Wahrscheinlichkeits-Vorhersagen dann nicht grundsätzlich unwissenschaftlich? Wenn die Statistiker jedes denkbare Ergebnis des Fußballspiels für möglich erklären und nur verschiedene Wahrscheinlichkeiten angeben, dann können sie am Ende des Spiels keinesfalls widerlegt werden, egal wie es ausgegangen ist.
Wenn ein Computermodell vorhersagt, dass Deutschland eine Gewinnchance von 80% hat und Deutschland verliert – ist dann das Modell zu 80% widerlegt? Ist es zu 20% unwissenschaftlich? Nein – man müsste eine große Zahl von Spielen analysieren und alle Spiele, bei denen das Rechenmodell den Sieg einer Mannschaft mit 80% Wahrscheinlichkeit vorhersagt, zu einer Gruppe zusammenzufassen. Bei einer großen Zahl von Spielen sollte die rechnerisch favorisierte Mannschaft in 80% der Fälle tatsächlich gewinnen. Wenn der errechnete Favorit nur in 60% der Fälle gewinnt, ist das Modell schlecht. Wenn der Favorit (und das klingt jetzt erst recht verwirrend) in 95% der Fälle gewinnt, dann spricht das ebenfalls gegen das Modell – es war dann zwar ziemlich gut im Vorhersagen des Favoriten, aber schlecht im Abschätzen der dazugehörigen Wahrscheinlichkeit.
Präsidentschaftswahlen und Klimawandel
Man kann also Vorhersagen, die auf Statistik und Wahrscheinlichkeit beruhen, niemals an einem einzelnen Ereignis messen und auch nicht durch ein einziges Ergebnis widerlegen. Und genau das verstehen manche Leute nicht: Vor der letzten Präsidentschaftswahl in den USA hatten Statistiker berechnet, dass Hillary Clinton mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 70% Präsidentin werden würde. Donald Trump gewann – und die Häme gegenüber den Statistikern war groß.
Zu Unrecht: Sie hatten Trumps Sieg ja nicht ausgeschlossen. Wenn bei zehn Wahlen jeweils ein Kandidat am Ende eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 70% hat, sollte sich dieser Kandidat in ungefähr sieben Fällen auch tatsächlich durchsetzen – dann war die Rechnung korrekt. Dass die US-Präsidentschaftswahl 2016 offenbar nicht zu diese sieben zählte, ist kein Argument gegen die statistischen Modelle.
Wenn ein Arzt eine 70%-Überlebenschance vorhersagt und der Patient stirbt, spricht das nicht gegen den Arzt. Selbst dem absolut perfekten Arzt, dessen Prognosen immer exakt richtig sind, passiert genau das in drei von zehn Fällen.
Derselbe Einwand lässt sich auch erheben, wenn wieder einmal Klima mit Wetter verwechselt wird: Die Klimaerwärmung erhöht die Wahrscheinlichkeit auf besonders warme Tage. Trotzdem wird, nach den Gesetzen der Statistik, auch in Zukunft immer mal ein kühlerer Tag dabei sein.
Wer dann gleich die Wissenschaftler auslacht und ihre Wahrscheinlichkeits-Ergebnisse für widerlegt hält, der hat nicht verstanden, was Wahrscheinlichkeitsaussagen sind.
Zur Person
Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen.