Wir Menschensortiermaschinen
Aha! Sie trinken also Milch! Das heißt, es ist Ihnen völlig egal, dass Kühe oft unter furchtbaren Bedingungen industriell ausgebeutet werden! Dass man Kälber früh von ihren Müttern trennt! Und dass man männliche Küken tötet! Das Aussterben der Orang-Utans finden Sie dann wohl auch gut! Warum hassen Sie Tiere? Was sind Sie nur für ein Mensch?
Diese Art des rhetorischen Frontalangriffs ist eine Form des sogenannten „Strohmann-Arguments“: Man spricht nicht über das, was der Gegner gesagt oder getan hat, sondern übertreibt seine Meinung ins Extreme, bis eine groteske Karikatur entsteht – ein „Strohmann“, der mit dem eigentlichen Gegner kaum noch etwas gemeinsam hat. Diesen Strohmann kann man dann mit hemmungsloser Wucht attackieren, bis die Strohhalme in alle Richtungen davonfliegen. Und dann hat man gewonnen. Hurra!
Dumme Panikmache! Blöde Verharmlosung!
Diese Art der Auseinandersetzung ist falsch und zerstörerisch, aber sie ist leider ziemlich häufig – gerade jetzt, in der Corona-Pandemie. Jemand ist für mehr Vorsichtsmaßnahmen: Ja will er denn, dass wir uns alle jahrelang einsperren und auf jeden Sozialkontakt verzichten müssen? Offenbar wünscht er sich, dass unsere Kinder nie wieder zur Schule gehen und die Wirtschaft vollkommen zusammenbricht!
Oder jemand findet, dass die Corona-Maßnahmen übertrieben sind: Ja glaubt er denn, dass COVID-19 völlig harmlos ist? Er ist sicher einer von diesen dummen Corona-Leugnern, die behaupten, dass es Viren gar nicht gibt! Und zu Hause setzt er wohl einen Aluhut auf, weil er Angst vor Handystrahlen hat!
Wir hören ein Argument, das uns anderswo schon geärgert hat, und ganz automatisch unterstellen wir weitere Aussagen, die gar nicht gefallen sind. Fast jeder von uns begeht diesen Fehler ab und zu – und das ist kein Wunder: Wir haben das Bedürfnis, in unserer komplizierten Welt Ordnung zu schaffen. Wer im Internet täglich mit hunderten Meinungen konfrontiert wird, kann nicht jede hingebungsvoll analysieren. Und so werden wir zur ratternden Menschensortiermaschine: Hier die Guten, dort die Bösen! Für Zwischentöne bleibt kein Platz. Und wenn jemand ein bisschen von unserer Meinung abweicht, dann setzt sich meine automatisierte Assoziationskette in Gang, die ihn mit haarsträubenden Schrecklichkeiten in Verbindung bringt, über die wir uns dann hingebungsvoll empören können.
Jemand setzt sich für Mieterschutz ein? Sicher ein Kommunist, der alle Wohnungsbesitzer enteignen will – oder gar hinrichten! Jemand beklagt sich über Schulklassen, in denen zu wenig deutsch gesprochen wird? Sicher ein Rassist, der Leute mit Migrationshintergrund aus dem Land vertreiben möchte! Und so genügen uns manchmal schon kleine, harmlose Signale, um jemanden zum bösartigen Feind zu stempeln – vielleicht verwendet er bestimmte Begriffe, die wir mit dem politischen Gegner in Verbindung bringen, vielleicht spricht er bestimmte Themen an, die wir gerne ausklammern würden, oder vielleicht hat er einfach einen Haarschnitt, den wir von Menschen kennen, die wir nicht mögen.
Signale sind nicht alles
Das ist unklug. Wir sollten Menschen für das kritisieren, was sie tatsächlich gesagt oder getan haben – nicht für die Dinge, die wir mit dem assoziieren, was sie gesagt oder getan haben. Was in unserem Kopf untrennbar zusammenhängt, kann im Kopf des anderen meilenweit auseinanderliegen. Symbole, Signale und Stilformen sind wichtig – aber sie sind nicht alles. Was wir als eindeutiges Signal interpretieren, hat für andere vielleicht eine völlig harmlose Bedeutung. Wir sollten niemandem Meinungen unterstellen, die er vielleicht gar nicht hat. Im Social-Media-Zeitalter ist das schwierig, aber es ist eine Fähigkeit, die wir lernen müssen, wenn wir friedlich miteinander leben wollen.
Zur Person
Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen