Hilfe für Allergiker: Mit Satelliten und Fallen gegen die Pollen
Etwa 100 Millionen Allergiker*innen gibt es in Europa, allein in Österreich sind 1,5 Millionen Menschen betroffen. Da der Großteil der Atemwegsallergien auf Pollen zurückzuführen sind, beginnt mit dem Frühling für viele Leidgeplagte einmal mehr die alljährliche Leidenszeit. Was jedoch die wenigsten wissen: Wien spielt in der weltweiten Allergieforschung eine ganz zentrale Rolle.
Denn hier fließen die Pollen- und Pilzsporendaten aus 38 Ländern und über 600 Messstationen im „European Aeroallergen Network“ (EAN) zusammen. Über 2,5 Gigabyte an Daten werden tagtäglich auf den Servern der Universität verarbeitet. Diese von der Medizinischen Universität Wien betriebene europäische Pollendatenbank ist die weltweit größte ihrer Art. Sie bildet die Basis für Prognosemodelle, die den Start der Blühsaison, aber auch hohe Belastungen vorhersagen können.
Exotische Forschung
Von Anfang an dabei war Uwe Berger. Der Aerobiologe und Leiter des Österreichischen Pollenwarndienstes verantwortet nicht nur die Datenbank, sondern auch Dienste wie pollenwarndienst.at und den „Ragweed Finder“, mit dem die Verbreitung der hochallergenen Pflanze dokumentiert werden kann.
"Pollenvorhersage und Symptomvorhersage sind zwei Paar Schuhe. Manche spüren fast nichts, selbst wenn hohe Konzentrationen vorhanden sind"
„Vor 30 Jahren war die Pollenforschung ein exotisches Thema. Als Medizinstudent habe ich einmal in der Woche 110 Briefe zur Post gebracht, in denen wir die Ärzteschaft mit Informationen zum Pollenflug versorgt haben“, erinnert sich Berger im futurezone-Interview. „Gewisse Zusammenhänge zwischen Pollenkonzentrationen in der Luft und Beschwerden waren zwar bekannt. Was die Prognosen betraf, ging es in den Anfangszeiten aber in erster Linie nur darum, an welchem Tag Hasel, Birke oder Gräser wohl zu blühen beginnen.“
Meteorologie an Bord
Das ist heute völlig anders. Während die manuelle Messtechnik mit sogenannten Pollenfallen quasi unverändert geblieben ist, hat sich durch den technischen Fortschritt enorm viel getan. Bei den komplexen Prognose-Berechnungen setzen die Forscher*innen auf eine enge Zusammenarbeit mit der Meteorologie. Zuletzt dockte sogar das europäische Satelliten-Programm Copernicus an der Wiener Datenbank an. Neben der Wetter- und Klima-Beobachtung hat sich Copernicus nun auch der Prognose für Pollenflug verschrieben.
So wird die Pollenkonzentration gemessen
Die Messung der Pollenkonzentration in der Luft erfolgt über sogenannte Pollenfallen, die meist auf Dächern in 15 bis 20 Metern Höhe aufgestellt sind. Diese saugen 10 Liter Luft pro Minute an, die darin befindlichen Pollen bleiben auf einer sich langsam drehenden Trommel auf einem Haftmedium kleben.
Der Streifen wird mindestens einmal pro Woche entfernt, in Abschnitte von jeweils 2 Stunden unterteilt und manuell unter einem Mikroskop analysiert. So können Auftreten und Anzahl der Pollen und Sporen genau festgehalten werden. Die erprobte Methode ist zuverlässig, aber zeitaufwändig und erfordert viel Personal.
Künstliche Intelligenz
Diverse Firmen arbeiten daher an automatisierten Pollenfallen, die analog zu modernen Wetterstationen die Partikel nicht nur sammeln, sondern mit integrierten Lichtmikroskopen und intelligenter Software praktisch in Echtzeit analysieren und klassifizieren. Nachdem die Zuverlässigkeit zuletzt deutlich gesteigert werden konnte, gelten neben Problemen bei der Vergleichbarkeit der Daten vor allem die hohen Kosten für die Systeme als Hürde.
„Mithilfe automatisierter Echtzeitdaten könnten wir die Qualität unserer Pollenflugprognose deutlich verbessern“, ist Vincent-Henri Peuch, Leiter des Copernicus Atmosphere Monitoring Service (CAMS), überzeugt. „Über unsere hochauflösenden Satelliten-Bildern wiederum können wir nicht nur ganz genau zählen, wieviele Bäume einer bestimmten Art in einer bestimmten Region vorhanden sind, sondern auch den saisonalen Zustand der Vegetation erkennen. Auch das trägt zu noch genaueren Pollenkarten bei“, sagt Peuch zur futurezone.
Welch enorme Sprünge die Rechenkapazität von Großcomputern in den vergangenen Jahren gemacht hat, veranschaulicht Uwe Berger, der Leiter des Pollenwarndiensts der MedUni Wien, an einem Beispiel: „Als wir vor 14 Jahren mit finnischen Kollegen erstmals die Pollenausbreitung der Birke simuliert haben, dauerte die Berechnung des Tagesverlaufs für Europa 25 Stunden. Die Auflösung war dabei mit 50 mal 50 Kilometer relativ grob. Heute schaffen wir das ganze in 2 bis 3 Stunden mit einer viel genaueren Auflösung von 10 mal 10 Kilometer.“
„Die Pollenausbreitung hängt in doppelter Weise vom Wetter ab. Die Historie der vergangenen Wochen gibt Aufschluss, wann die für Allergiker relevanten Bäume, Gräser und Kräuter in einer Region blühbereit sind. Aktuelle Bedingungen wie Temperatur, Luftfeuchte, Sonneneinstrahlung, Wind und Niederschläge sind wiederum notwendig, um vorhersagen zu können, wie hoch die lokale Pollenkonzentration in den kommenden Tagen ausfallen wird“, erklärt Harald Seidl von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) der futurezone.
Da bisher kaum automatisierte Echtzeitmessungen zur Verfügung stehen und lokale Ereignisse wie Gewitter oder Platzregen einen starken Einfluss auf die Pollenkonzentration an einem bestimmten Ort haben, bleibt die Vorhersage eine Herausforderung. „Eine zuverlässige 3-Tages-Prognose bekommen wir mittlerweile schon gut hin. Darüber hinaus wird es schwierig“, sagt Seidl. Auch die ZAMG veröffentlicht auf ihrer Webseite die erwartete Pollenbelastung für die kommenden Tage.
Individueller Schwellwert
Verkompliziert wird das Ganze auch dadurch, dass die Pollenkonzentration in der Luft nur ein Faktor ist, wie die Beschwerden bei einem Allergiker ausfallen. „Pollenvorhersage und Symptomvorhersage sind zwei Paar Schuhe. Manche reagieren auf wenige Pollen in der Luft extrem stark, andere spüren fast nichts, selbst wenn hohe Konzentrationen vorhanden sind“, sagt Aerobiologe Berger.
„Am Anfang der Saison sorgen die Pollen tendenziell für heftigere Beschwerden, auch weil das Immunsystem stärker reagiert. Eine hohe Ozonbelastung und andere Luftschadstoffe können Symptome ebenfalls verstärken, weil die Schleimhäute zusätzlich gereizt werden und sich die Oberflächenstruktur der Pollen verändert.“
Aber auch die gewohnten Rahmenbedingungen spielen laut Berger eine wesentliche Rolle. „Ein Finne mit einer Birkenpollenallergie wird in Österreich auch beim Höhepunkt der Blüte kaum Beschwerden haben, weil sein Immunsystem an ganz andere Konzentrationen gewöhnt ist. Reist ein österreichischer Allergiker im Frühling nach Finnland, kann das hingegen böse ausgehen“, weiß Berger aus eigener Erfahrung.
Aussagekräftige Schwellenwerte und Warnstufen für Betroffene festzulegen, die sich rein nach der Pollenkonzentration orientieren, seien daher kaum möglich.
Kostenlose Dienste
Abhilfe schaffen soll das von Berger entwickelte „Pollentagebuch“, das auf der Webseite und der App des Pollenwarndiensts integriert ist. Auf Basis der dort dokumentierten Allergie-Symptome erhalten Betroffene eine auf sie maßgeschneiderte Beschwerdeprognose. Der Dienst ist in 12 Sprachen verfügbar, bereits eine halbe Million Nutzer*innen weltweit greifen auf die Wiener Plattform zu.
Die Nutzung ist kostenlos, finanziert werden Datenbank und Apps durch klinische Studien, Sponsorings durch Pharmafirmen und Kooperationen wie mit Copernicus. Das Teilen von persönlichen Nutzer- bzw. Symptomdaten ist laut Berger dabei allerdings tabu: „Alle Daten liegen anonymisiert auf Servern der Meduni Wien und werden nicht weitergegeben.“
Auf finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand wartete Berger bisher hingegen vergebens. Für die Zukunft wünscht sich der Leiter des Pollenwarndiensts, dass das Thema Allergie auch von politischen Entscheidungsträger*innen noch mehr ernst genommen wird.
„Mein Traum wäre, wenn am Ende der Nachrichten nicht nur die Wettervorhersage kommt, sondern auch die aktuelle Allergenkarte eingeblendet wird. Das würde Betroffenen definitiv helfen und noch mehr Bewusstsein für das Thema schaffen“, ist Berger überzeugt.