Industrie 4.0: Menschliche Sinne reichen nicht mehr aus
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr!
Die “vernetzte Fabrik” ist, je nachdem wen man fragt, der Untergang oder die Rettung der europäischen Industrie. Doch dass viele Menschen nicht wissen, was sich hinter dem Begriff “Industrie 4.0” versteckt, beweisen nicht nur Umfragen, sondern auch die Tatsache, dass die Digitalisierung in vielen heimischen Betrieben bereits weit vorangeschritten ist. Der steirische Technologie-Konzern AT&S, einer der größten High-Tech Leiterplatten-Hersteller weltweit, setzt bereits seit einigen Jahren auf Technologien, mit denen der Produktionsprozess in Echtzeit automatisch überwacht und angepasst wird.
Erste Technologien bereits im Einsatz
So untersucht ein sogenannter “Goldkontroller” bereits seit 2014 vollautomatisch die Konzentration des Goldes mit geringster Schwankung, das auf die Leiterplatten aufgetragen wird. Zuvor wurde dieser Prozess von Menschen durchgeführt. Zudem transportieren bereits ähnlich lang fahrerlose Transportsysteme - optisch ähneln sie einem fahrenden Schreibtisch - selbstständig Leiterplatten zwischen zwei Werken hin und her. Doch das wohl größte Projekt ist das “Manufacturing Execution System” (MES), das im chinesischen Werk in Chongqing sowie in einigen Bereichen des Standortes in Leoben zum Einsatz kommt.
Dieses sammelt laufend Daten aus der Produktion und passt diese bei Bedarf selbstständig an. So können Daten wie Materialverbrauch, Arbeitsaufwand, Prozessparameter, Auftrags- und Anlagenstatus und vieles mehr in Echtzeit überwacht werden. AT&S ist, wie auch Infineon und AVL, zudem am EU-Forschungsprojekt SemI40 beteiligt, bei dem insgesamt 37 Unternehmen aus fünf Ländern an Technologien zur “smarten Fabrik” forschen. In Zukunft will AT&S auch in der Lage sein, mithilfe von Big Data den Bedarf in der Produktion voraussagen zu können.
Nicht alles kann umgerüstet werden
“In einem Industrieland, wie es die Steiermark ist, sollte Industrie 4.0 alle bewegen. Es wird den industriellen Alltag und Zugang stark verändern. Das betrifft sowohl den Arbeiter als auch jeden Anderen, da dadurch neue Geschäftsmodelle entstehen werden”, so Moitzi. Das Unternehmen will die Chance sowohl als Anwender als auch als Anbieter nutzen. So bietet man entsprechende Produkte für “Machine to Machine”-Kommunikation an, die auch andere Unternehmen nutzen können.
Neue Beschäftigungsmodelle gefordert
Wie viele andere Unternehmen hat auch AT&S damit zu kämpfen, dass es derzeit keine Industrie-weiten Standards für den Datenaustausch gibt. Das sei aber laut Moitzi auch auf die Breite der Branche zurückzuführen. “Die Halbleiterhersteller haben diesen Standard geschafft, weil es deutlich weniger Player gibt. Der Leiterplattenmarkt ist viel stärker aufgefächert, allein in China gibt es mehr als 2000 Hersteller. Es ist auch schwer, die über die ganze Welt verstreuten Maschinenhersteller davon zu überzeugen”, erklärt Moitzi. Der Druck von großen Kunden, die derartige Daten immer häufiger verlangen, sorge aber dafür, dass sich die Branche immer stärker darauf einstellt.
Dieser etwas behäbige Prozess gewährt aber auch Spielraum, die Gesellschaft auf die Digitalisierung vorzubereiten. Laut Moitzi müsse man sich auch von der Denkweise verabschieden, dass es “schick wäre, mit 55 in Pension zu gehen” und dass dies das dominierende Thema im Leben wäre. “Es gibt auch Schauspieler, die mit 90 noch auf der Bühne stehen. Arbeit darf keine Strafe sein. Vielleicht braucht es Konzepte, beispielsweise mit weniger Stunden pro Woche, aber nur so können wir die Industrie in Europa halten.” Er finde es verantwortungslos, dass man dieser Generation das Gefühl vermittle, sie könnten nicht an dieser Zukunft teilhaben. “Das ist Aufgabe der Politik, diesen Menschen eine Vision zu geben.”
Dem aktuellen Mangel versucht AT&S über Kooperationen mit einschlägigen Bildungseinrichtungen, beispielsweise Fachhochschulen und HTL, entgegenzuwirken: “Das bedeutet nicht, dass man die Leute mit einer Ausbildung nicht dorthin bringen kann. Wir müssen ohnehin viele unserer Mitarbeiter selbst ausbilden, weil es den Leiterplatten-Ingenieur als Ausbildungszweig nicht gibt. Eine gute Grundausbildung braucht man aber.”
"Ein guter Ingenieur in China ist genauso teuer wie in Österreich"
Dass der Standort Europa an Bedeutung verliert - allein AT&S beschäftigt mehr als 6500 Mitarbeiter in China - glaubt er jedoch nicht. “Es ist eine riesige Chance. Mit Industrie 4.0 hat man die Möglichkeit, als kleines Land mit geistigem Wissen auf Augenhöhe zu arbeiten. Wir können unser Wissen weltweit anwenden, das war früher nicht möglich.” Ein guter Ingenieur in China sei zudem genauso teuer wie in Österreich.
Angst vor Scheinwelt
Deutlich mehr Sorgen bereiten ihm mögliche Sicherheitsprobleme, die sich durch die Digitalisierung ergeben. Bislang schotte man sich, so gut es geht, vor der Außenwelt ab, doch künftig müssen Daten nicht nur wie bereits zwischen verschiedenen Standorten, sondern auch mit Kunden und Lieferanten ausgetauscht werden.
Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen AT&S und der futurezone.
Kommentare