© Thomas Prenner

re:publica 2012

"Der entfesselte Skandal" kann jeden treffen

Eine Bombe, aus deren Zündschnur Nullen und Einsen sprühen: Mit dem Cover des im Rahmen der re:publica präsentierten Sachbuchs “Der entfesselte Skandal” (Herbert von Halem Verlag, 19,80 Euro) ist eigentlich schon alles klar. “Es ist unendlich leicht geworden, sich zu empören”, schreiben die Co-Autoren Bernhard Pörksen und Hanne Detel in ihrer Einleitung. In jeder modernen Nation würden ohnehin schon täglich 20 bis 30 Erregungsvorschläge lanciert werden - und darüber hinaus würde sich ein neues Skandalschema herausbilden: der entfesselte Skandal.

Pörksen ist Medienwissenschaftler an der Universität Tübigen, und gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hanne Detel hat er 15 solcher entfesselter Skandale im Detail durchleuchtet. Das ist durchaus spannend, denn das alte Thema streift viele wichtigen Entwicklungen der IT-Welt der letzten Jahre: Whistleblower, Sex-Blogs, Cybermobs, Pranger-Webseiten, YouTube-Videos und Social-Media-Kampagnen.

Außer Kontrolle
Die grundlegenden Erkenntnisse: Die Enthüller sind nicht mehr nur Journalisten. “Aufzeichnungsmedien wie Handys, Digitalkameras, leistungsstarke Computer, Verbreitungsmedien im Social Web, also Netzwerk- und Multimedia-Plattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube, Blogs, persönliche Websites und Wikis sind die neuartigen Instrumente solcher Skandalisierungsprozesse”, heißt es in dem Buch. Und: Es gibt neue Opfer. “Status, Prominenz und Macht sind keine Voraussetzung mehr für die effektive Skandalisierung”, schreiben Pörksen und Detel. Die Konsequenzen dieser Entwicklungen leiten die Autoren auch gleich nüchtern ab: “Die ohnehin bescheidenen Möglichkeiten der Kontrolle, der Steuerung und des Skandalmanagements nehmen unter diesen Bedingungen dramatisch ab.”

In der Beweisführung ihrer sind Pörksen und Detel akribisch wie schlau. Bekannte Beispiele wie das “Collateral Murder”-Video von WikiLeaks, GuttenPlag oder die Greenpeace-Kampagne gegen Nestlé werden natürlich als Paradebeispiele herangezogen und gekonnt neutral geschildert wie analysiert. Richtig interessant ist der “entfesselte Skandal” aber vor allem, wenn es um weniger bekannte Fälle geht.

Fesselnd
Da gibt es etwa das Kapitel über die US-Amerikanerin Jessica Cutler, die 2004 mit ihrem Sex-Blog “Washingtonienne” in den USA für Furore sorgte - und zwar nicht nur, weil sie über ihr Sexleben am Capitol Hill bloggte, sondern nach der Löschung ihres Blogs auch gleich Kapital aus der Skandalisierung schlug. Oder die Cyber-Hetzjagd auf die Chinesin Gao Qianhui, die packend veranschaulicht, was es heißt, Opfer einer “Menschenfleischsuche” in China zu sein.

Gut gelungen sind den Autoren auch die Text-Einschübe, die Fachbegriffe wie “Scandal-Surfing”, “Menschenfleischsuche”, den “Streisand-Effekt”, “Shitstorm” oder “Crowdsourcing” noch einmal kurz und knackig erklären. Insgesamt ist “Der entfesselte Skandal” ein absolut lesenswerter Titel und für Medienwissenschaftler wie Journalisten, dem es gelingt, sowohl Überblick als auch tiefen Einblick in das Thema und seine Problematiken zu geben. Enttäuschend, aber verzeihbar ist lediglich der Schluss: Denn einen Ausweg aus dem Dilemma könne die Autoren natürlich nicht skizzieren - ein entfesselter Skandal lässt sich eben nicht fesseln. Und so heißt es zum Schluss: "Handle stets so, dass Dir die öffentlichen Effekte Deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt."

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