Gezwitscher zwischen Revolution und Mittagessen
Gezwitscher zwischen Revolution und Mittagessen
© dpa/Armin Weigel

Social Media

Twitter: "Verbreitungsdynamiken unterschätzt"

Als sich Anfang des Jahres ein deutscher Politiker mit unangemessenem Verhalten gegenüber einer Journalistin in die Nesseln gesetzt hatte, gab dies den Anstoß zu einer breiten Diskussion über Alltags-Sexismus. Unter dem Hashtag #Aufschrei entwickelte sich auf Twitter eine gesellschaftliche Debatte, die internationale Beachtung fand und ihresgleichen sucht. Sie ist nur ein Beispiel dafür, welchen Stellenwert die Online-Plattform mittlerweile in der Öffentlichkeit, bei Medien und auch immer mehr Bürgern einnimmt. Bedroht ein Hurrikan oder Erdbeben das Leben von Menschen, verbreiten sich die News auf Twitter in sprichwörtlicher Windeseile auf der ganzen Welt, und auch bei tragischen Geschehnissen wie dem Bombenanschlag in Boston im Frühjahr wurden viele Details zuerst auf Twitter vermeldet.

In Echtzeit
"Wir sind ein Echtzeit-Informationsnetzwerk. Niemand sonst hat sich so auf Echtzeit konzentriert, wie Twitter das gemacht hat", sagte Karen Wickre, Kommunikationschefin bei Twitter, kürzlich in einem Interview mit der futurezone. Diese Selbst-Definition trifft den Kern der Plattform tatsächlich ganz gut, sieht man sich an, in welche Richtung sich Twitter über die vergangenen Jahre entwickelt hat. Während man auf Facebook "Freunde" hat, sich gerne auch privat austauscht und Information zum Teil nur gefiltert ankommen, setzt Twitter auf maximale Offenheit, ein asynchrones Follow-Prinzip und Simplizität. Dadurch erreichen Nachrichten eine irrsinnige Geschwindigkeit, die von kaum einem anderen Medium erreicht werden kann.

"Der Stream ist chronologisch, es gibt keinen Algorithmus dahinter, der eine Nachricht bewertet und dementsprechend reiht. Jede Nachricht wird technologisch gesehen vollkommen gleich behandelt", erklärt Social-Media-Expertin Judith Denkmayr, Geschäftsführerin bei der Agentur Digital Affairs. Es gebe die
Retweet-Funktion, die nicht durch Privacy-Settings behindert werde. Gerade diese macht es einfach, dass Informationen extrem schnell und unkompliziert per Knopfdruck weiterverbeitet werden können. Tatsächlich nutzt kaum jemand Twitter als geschützten Account, die Einfachheit des Service veranlasst dazu, Postings öffentlich zu verbreiten. Daher wird Twitter stark als Nachrichtenkanal genutzt. "Die Plattform ist an sich offen für alle, auch für jene, die keinen Twitter Account haben", so Denkmayr.

Knackpunkt
Die Schnelligkeit, die einerseits der große Trumpf von Twitter ist, kann jedoch genauso rasch ins Gegenteil umschlagen. Gerade das zeigten etwa die Bombenanschläge beim Boston Marathon. Die News waren in Sekunden rund um die Welt gegangen, doch leider war vieles davon schlichtweg Falschinformation. Personen wurden zu unrecht verdächtigt, Gerüchte wurden als Tatsachen verkauft und Fotos in falschen Kontext gesetzt. Dass dabei auch viele Medien die Informationen ungeprüft übernehmen, ist leider kein Einzelfall.

Troll-Verhalten
Probleme bereiteten auf Twitter zuletzt auch vermehrt auftretende Hasspostings, Anfeindungen von einzelnen Usern und sogenanntes Trollverhalten, wie man es allerdings überall im Netz finden kann. So wurde kürzlich eine britische Journalistin massiv bedroht und von diversen Usern belästigt, nachdem sie mehr Frauen auf den Pfund-Noten gefordert hatte. Daraufhin forderten zahlreiche Nutzer, besseren Schutz von Twitter. Der Dienst reagierte und will in Zukunft das Melden von Bedrohungen und Belästigungen vereinfachen und einen entsprechenden Button, den es für iPhone-User bereits gibt, auf Android und die Webseite ausweiten.

Weniger dramatisch ist es, wenn eine öffentliche Person "Opfer" von Satire wird, die sich per Twitter ebenfalls sehr schnell verbreiten lässt und aufgrund der Verbreitungsgeschwindigkeit gerne auch mal ein Weilchen unentdeckt bleibt. Davon kann beispielsweise Kardinal Schönborn ein Liedchen singen, der - selbst aktiv auf Twitter - unlängst von einer Satire-Webseite aufs Korn genommen wurde. Die mehr oder weniger gut gefälschte Nachricht, er habe eine Art Keuschheitskampagne mit einem Känguru als Maskottchen gestartet, breitete sich wie ein Lauffeuer über Twitter aus. Bis die ersten User vermeldeten, dass es sich um Satire handle, war die Nachricht längst in alle Timelines geschickt.

"Als Gefahr sehe ich vor allem, dass man das Potenzial der Verbreitungsdynamiken unterschätzt", sagt Denkmayr. "Man setzt einen kontroversen oder unbedachten Tweet ab, Sekunden später wird dieser von Menschen, die einen noch nie wahrgenommen haben (möglicherweise empört kommentiert) retweetet und schon schaukelt sich ein kleiner Shitstorm auf." Mit etwas Glück oder auch Pech sei der Tweet zwei Stunden später in einem Artikel auf einer Medienplattform eingebunden und tags drauf in einer bunten Tageszeitung abgedruckt.

"Richtiges Verhalten"
Grundsätzlich gelten bei Twitter ähnliche Verhaltensregeln wie überall sonst im Netz: Es gilt sich verantwortungsvoll zu verhalten, Infos nachzuprüfen und dieselben Höflichkeitsregeln zu befolgen wie im Offline-Leben auch. "Auf falsche Behauptungen kann eine einmalige Richtigstellung erfolgen", rät Denkmayr. Ebenso solle man bei Anfeindungen erst einmal darauf eingehen - "sachlich, vielleicht mit etwas Zeitverzögerung, um die ersten Emotionen vorher reflektieren zu können". Wenn diese ungerechtfertigt seien, verfolge die andere Partei entweder eine bestimmte Agenda oder versuche, Aufmerksamkeit zu bekommen, meint die Expertin. "Da gilt die alte Web-Weisheit: Don`t feed the troll. Nicht mehr drauf eingehen, sonst legt man der Diskussion ständig nach. Und man gewinnt sicher nicht."

Sollte man die jeweilige Person etwas kennen oder davon ausgehen, dass es sich nicht um einen Troll handel, könne man auch versuchen, die Kommunikation über private Message aus der Öffentlichkeit zu holen, meint Denkmayr. "In manchen Fällen kann es hilfreich sein, den Account auf "Protected" zu stellen, um sich aus der Schußlinie zu nehmen." Damit habe man allerdings auch weniger Einfluss auf die öffentliche Diskussion.

Werbekanal für Prominente
Auch für Politiker kann Twitter ein lohnender Kanal sein, um ihre Botschaften unter das Volk zu bringen, das haben die vergangenen Jahre ebenfalls gezeigt. Allen voran hat das US-Präsident Barack Obama schon im Zuge seines ersten Wahlkampfes deutlich gemacht. In den USA nutzen viele Stars die Plattform zu Promotionzwecken, und sogar der Papst kommt mittlerweile nicht mehr um Twitter herum. Bei Schauspielern, Autoren, Journalisten, Musikern und auch Politikern könne die Größe ihrer Community ein Gradmesser ihrer Prominenz sein, meint Denkmayr. "Das kann beim Vertrieb ihrer Produkte helfen oder dazu führen, dass sie Aufträge bekommen, weil klar ist, dass es für ihre Performance oder ihre Werke ein potenzielles Publikum gibt." Gleichzeitig sei Twitter kostenlos und die Nutzung sowie der Kontakt zu anderen sehr einfach.

Doch auch hier gilt: Eine falsche Info, ein peinlicher Tweet, ein schlechtes Foto sind schnell verbreitet. Greifen Medien die News auf, schwappen diese auch schnell auf ein noch viel breiteres Publikum außerhalb der Plattform über.

Eine Plattform für alle
Letztlich gibt es keine Einschränkungen, für wen sich der Dienst eignet. "Twitter spricht ja von Follower/Following und der Begriff ist da vielsagend", meint Denkmayr. "Es ist eines der wichtigsten Twitter-Motive: Man meldet sich an, um einer bestimmen Person zu folgen. Es gibt also meist eine Person oder Personengruppe, die für den jeweiligen User von Interesse ist. Das kann Lady Gaga, ein Twilight-Darsteller, der Dalai Lama oder Armin Wolf sein, ebenso aber mein Studienkollege, meine Sitznachbarin oder meine Lieblings-Cupcake-Rezepte-Bloggerin."

"In Österreich sind die bekanntesten und reichweitenstärksten Twitter Accounts Personen aus dem Medienbereich, aus der Politik - oder Kommunikationsbranche", erklärt die Social-Media-Expertin. Diese elitäre Gruppe sei sehr sichtbar - aber sie
seien bei weitem nicht die einzigen. "Es gibt eben auch andere Motive, etwa  "Fantum" im Sport oder auch in der Entertainmentbranche. Es gibt in Österreich eine Twittergruppe von einigen Hundert Leuten, die ausschließlich wegen Justin Bieber auf Twitter sind, sich nur untereinander vernetzen und hoffen, dass sie eines Tages von Justin Bieber retweeted werden."

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Claudia Zettel

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futurezone-Chefredakteurin, Feministin, Musik-Liebhaberin und Katzen-Verehrerin. Im Zweifel für den Zweifel.

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