Ricardo Baeza-Yates
Ricardo Baeza-Yates
© Nadja Meister

Wahrheit

"Wir brauchen neutrale Medien"

Der spanisch-chilenische Informatiker Ricardo Baeza-Yates sprach in seinem Vortrag in Wien über Fake News und die Macht von Algorithmen in der webzentrierten Informationskultur. Unter dem Titel "Bias on the Web" erklärte der Experte für Datenanalyse und Algorithmen, warum es so schwierig ist, vertrauenswürdige Informationen zu erkennen und welche Arten von Bias (gemeint sind Verzerrungen von Daten und Informationen, die sich durch Grundannahmen, Vorurteile und Vorlieben ergeben) die Verteilung und Präsentation von Information beeinflussen. Die futurezone hat ihn gefragt, welche Lösungen er anzubieten hat.

futurezone: Sie sprechen in Ihrem Vortrag über Fake News und die Macht der Algorithmen. Was sind ihre zentralen Thesen?
Baeza-Yates: In den vergangenen zwei bis drei Jahren gab es - vor allem in den USA - eine Auseinandersetzung mit dem Problem, dass Bias in Daten sich auf Minderheiten auswirken kann. Ein Beispiel wäre, dass es für Afroamerikaner schwerer ist, Kredite zu bekommen. Ein weiteres Problem sind Fake News. Es ist oft schwierig, die Wahrheit von Falschmeldungen zu unterscheiden. Das war auch im österreichischen Wahlkampf zu beobachten, als Van der Bellen seine Befunde offenlegen musste, weil Krebsfalschmeldungen im Umlauf waren. Diese Entwicklung bereitet vielen Menschen Sorgen. Viele Leute konzentrieren sich - zurecht - auf den Bias in den Daten, die uns für Entscheidungen zur Verfügung stehen. Der weniger sichtbare Teil des Problems ist der Bias, der nicht in den Daten liegt, sondern im Umgang mit ihnen.

Zum Beispiel?
Ein Aspekt ist der "Presentation Bias". Wenn man in den Supermarkt geht und Reis kaufen will, ist die Auswahl begrenzt. Es gibt nur eine bestimmte Palette an Marken, die vielleicht sogar dafür bezahlen, im Regal zu stehen. Dann werden die verschiedenen Marken auch noch nach bestimmten Vorgaben im Regal platziert. Man kann nur kaufen, was man auch sieht. Im Internet passiert dasselbe. Wenn ich eine Videostreaming-Seite besuche, bekomme ich eine bestimmte Auswahl zu sehen. Das können zehn Titel sein oder auch hundert, aber es wird immer Millionen von Filmen geben, die ich nicht wählen kann. Das ist ein Teufelskreis. Die Anbieter, deren Produkte ich sehe, werden reicher, der Rest verliert.

Das betrifft auch die Art und Weise, wie Information verteilt wird?
Auch in sozialen Netzwerken und Suchportalen gibt es diesen Effekt. Das ist eine Konsequenz der Filterblase. Ein Lösungsansatz für Nutzer ist es, zu versuchen ein möglichst diverses Angebot an Informationen zu konsumieren. Nur dann kann ich durch Zufallsentdeckungen - die liegen meist an der Grenzfläche der Filterblase - meinen Horizont erweitern.

Was könnten die Anbieter tun?
Eine Lösung wäre, die Betreiber der Plattformen dazu zu bewegen, eine fairere Auswahl anzubieten. Ein anderer Ansatz wäre es vielleicht, Nutzer mit ihrem Negativ zu konfrontieren, also mit jenen Informationen, die eine Person mit diametral entgegengesetzter Meinung konsumieren würde. Diese Möglichkeit bietet bislang aber kein System. Für gewöhnlich sehen wir andere Meinungen kaum, obwohl das wichtig für das Treffen von Entscheidungen wäre

Gibt es hier schon Ansätze?
Wir versuchen solche Systeme zu entwickeln. Eine Idee ist das Verbinden von Menschen mit diametral entgegengesetzter Meinung über Bindeglied-Themen. Vielleicht kann etwa die Liebe zum selben Fußballclub als Brücke zwischen Konservativen und Progressiven dienen. Dieser Ansatz hat aber Grenzen. Ich glaube beispielsweise nicht, dass das für tiefe, religiöse Gräben funktionieren würde.

Welche Rolle spielen die klassischen Medien?
Die Medien gewichten ebenfalls oft eine Seite stärker, indem sie beispielsweise bestimmte Meldungen prominenter positionieren. Auch eine politische Grundfärbung ist bei vielen Medien zu beobachten.

Wie verzerren die Algorithmen von Google und Co das Informationsangebot?
Suchmaschinen verstärken solche Biases noch. Wenn ein Journalist einen Artikel schreibt, wird er meist die obersten Ergebnisse bei Google als Ausgangspunkt für seine Recherche nehmen. Das Ergebnis publiziert er dann wieder im Netz, was sich wiederum auf das Ranking der Ergebnisse auswirkt. So wird die Konzentration auf wenige Quellen verstärkt und neue Inhalte werden in die Richtung beeinflusst, die die Suchmaschinen für richtig halten.

Warum werden Informationsquellen nicht häufiger hinterfragt?
Menschen möchten ihre Meinungen bestätigt sehen. Das nennen wir Selbstselektionsbias. Die Menschen klicken auf unterschiedliche Dinge, wenn ihnen dieselbe Nachrichtenauswahl präsentiert wird.

Welche Konsequenzen haben verzerrte Informationen?
Die Wahlen zum Brexit und in den USA waren durch die sozialen Medien manipuliert. Ich meine damit nicht durch Hacker - was auch nicht auszuschließen ist - sondern durch solche Biases. Die Politiker und Medien haben mitgespielt. Zum Beispiel schafft es eine nicht muslimische Attacke eben selten auf die Titelseiten.

Wie könnte ein Informationsangebot mit weniger Bias aussehen?
Das ist ein Problem, das uns alle betrifft. Man könnte versuchen sicherzustellen, dass was die Menschen präsentiert bekommen, ausgewogener ist.

Derzeit sind es oft Medien und Politik, die am lautesten nach der Wahrheit schreien. Kann es die in diesem Zusammenhang überhaupt geben?
Die Grundlage sollte die Wahrheit sein. Von der gibt es aber mehr als eine Definition. Wenn 80 Prozent der Menschen Gelb als Blau sehen, sollten wir dann die Bezeichnung ändern? Die Mehrheit kann Fakten schaffen. Allerdings sind die Menschen manchmal wie Lemminge. Universale Werte könnten eine mögliche gemeinsame Basis sein.

Die geraten vonseiten der Politik auch zunehmend unter Druck, wie zuletzt die Aussagen von Theresa May gezeigt haben.
Dass May im Namen der Sicherheit die Magna Carta angreift, ist unerhört. Politiker können gefährlich sein.

Warum wählen wir sie dann?
Am Ende sind wir Tiere. Unsere Instinkte sagen uns, wir sollen unsere Familie und unseren Besitz verteidigen. Das nutzen Politiker aus, indem sie Bedrohungsszenarien an die Wand malen. Sogar wenn die Menschen wissen, dass die nicht wahr sind, wollen sie das Risiko meist nicht eingehen. Die Gesellschaft ist unsere Software, unser Hardware, das Hirn, hinkt aber 100.000 Jahre hinterher. Deshalb streben die Menschen nach Macht.

Das heißt die Grundwerte sind ohnehin nur ein normatives Konzept?
Wir sollten trotzdem versuchen, universale Werte hochzuhalten. Sonst wird es sehr schwierig.

Wie könnten Leute politisch informiert werden, ohne zu polarisieren?
Die Lösung im Bereich der Politik wäre wohl am ehesten zu erkennen, dass es bei den meisten Themen ein Spektrum von Sichtweisen gibt. Ich könnte durch Analysen des Leseverhaltens feststellen, ob ein Webseitenbesucher links oder rechts steht und ihm das Ergebnis präsentieren. Wenn der Leser eine Skala sieht, die ihm zeigt, wo er auf Basis seines Medienkonsums politisch eingeordnet wird, kann das ein Angebot sein, sein Verhalten zu überdenken. Das kann aber immer nur eine Option sein, viele Leute würden das Angebot also nicht annehmen. Das Bereitstellen von Faktenchecks und ein Bewertungssystem für die Glaubwürdigkeit von Berichten könnte ebenfalls helfen.

Was ist mit unhinterfragten Grundannahmen, die jeder Berichterstattung innewohnen können, wie etwa das Vertrauen in die kapitalistische Gesellschaftsordnung?
Vielleicht ist das etwas, was die Gesellschaft akzeptiert hat. Dann ist es für die meisten Menschen die Wahrheit. Bei Bias geht es nicht darum, wie weit ich von der Wahrheit weg bin, sondern darum, wie weit ich von dem weg bin, was akzeptiert ist. Bias ist immer von einer angenommenen Basislinie abhängig, die oft schwierig oder gar unmöglich zu definieren ist.

Was passiert, wenn viele Menschen unterschiedlichen Biases aufsitzen?
Die Polarisierung ist ein Problem. Sie führt in Folge dazu, dass Menschen das geringere von zwei Übeln wählen müssen. Ich glaube etwa nicht, dass Österreich einen Grünen zum Präsidenten gewählt hätte, wenn die Situation nicht so zugespitzt gewesen wäre. Solche Entscheidungen können dann immer in beide Richtungen ausschlagen, wie man an Trump gesehen hat.

Was könnte hier Abhilfe schaffen?
Wir brauchen neutrale Medien. Die US-Medien sind so polarisiert, dass es praktisch zwei Öffentlichkeiten im Land gibt. In geringerem Ausmaß passiert das auch in Europa. Unser System polarisiert sich zunehmend und die Medien befördern das. Es ist schwer, eine Zeitung zu finden, die sich nicht politisch positioniert. Oft führt das zu Konflikten zwischen dem, was die Redakteure denken und dem was sie eigentlich aufzeigen sollten.

Was sollte die Politik tun?
Politiker sollten der Gesellschaft helfen, ihre Ziele zu erreichen. Das passiert leider selten. Viel zu oft geht es um persönliche Machtspiele. Meist sind es heute andere Akteure, etwa auch einige Journalisten, die das gesellschaftliche Wohl im Auge behalten.

Qualitätsjournalismus als Lösung?
Die Medien gehören nicht nur den Journalisten und durch die sozialen Medien ist heute jeder ein bisschen Journalist. Die Redakteure können nicht immer sagen, was sie möchten. Eine Idee wäre es, in Kommentaren zu versuchen, verschiedene Sichtweisen zu einem Thema gegenüberzustellen. Dann können alle Seiten ihre Position argumentieren und die Leser entscheiden, wer glaubwürdiger ist. Oft gibt es eben mehr als schwarz oder weiß. Die meisten Dinge sind grau.

Dieser Ansatz ist bekannt. Das bloße Gegenüberstellen verschiedener Experten wurde in der Vergangenheit ebenfalls oft kritisiert und etwa als Anti-Journalismus bezeichnet.
Die Kritik verstehe ich nicht und ich glaube, sie kommt von Leuten, die fürchten, die Deutungshoheit zu verlieren.

Warum kocht die Debatte über Fake News aktuell hoch, obwohl das Phänomen alt ist?
Fake News hat es immer gegeben. Aber das Web ist ein Verstärker. Alles ist also wie gehabt, nur dass der Verstärkungsgrad manchmal außer Kontrolle gerät. Fake News können heute in kurzer Zeit die ganze Welt erreichen, während sie früher vielleicht nicht über den Stammtisch hinausgekommen sind.

Das Internet als unkontrollierbarer Dschungel?
Das Netz bietet uns auch die Möglichkeit, Nachrichten zurückzuverfolgen. Das kann uns helfen. Wenn ich wählen müsste, würde ich die heutige Situation deshalb sogar bevorzugen. Nachvollziehbarkeit ist Trumpf.

Viele Menschen scheinen derzeit das Gefühl zu haben, dass die Welt schlechter wird. Das wird auch auf den Spiegel Internet zurückgeführt, über den wir die Geschehnisse beobachten. Zu Recht?
Das Netz verstärkt nicht nur das Schlechte, sondern auch das Gute. Wenn die Menschen das Gefühl haben, das Internet präsentiere ein düsteres Bild der Welt, liegt das an ihrem Self-Selection-Bias. Dass das Netz böse ist, ist schlicht nicht wahr, weil es einfach nur ein verstärktes Spiegelbild der Gesellschaft ist.

Zur Person: Der chilenisch-spanische Informatiker Ricardo Baeza-Yates ist derzeit CTO der semantischen Suchmaschine NTENT und war früher Vizepräsident für Forschung bei Yahoo Labs. Er hält zudem Professuren an Universitäten in Barcelona und Santiago de Chile und ist ausgewiesener Experte für Datenanalyse und Algorithmen.

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Markus Keßler

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