Anno 1800 im Test: Rückkehr des Zeitfressers
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Manchmal bin ich unfassbar naiv. Eigentlich wollte ich dieses Wochenende nur ein paar Stunden mit Anno 1800 verbringen und mich dann mit Freunden treffen. Doch während ich gerade mit einem Schiff auf eine Expedition in die Südsee aufbrach, neue Handelsrouten errichtete und Produktionsketten optimierte, ging, unbemerkt von mir, die Sonne unter und alle bisherigen Pläne waren vergessen. Das Anno-Fieber hatte mich wieder gepackt.
Während es bei Civilization „Nur noch eine Runde“ heißt, fesselt Anno den Spieler mit „Nur noch eine neue Produktionskette“. Bereits die erste Version, Anno 1602, die 1998 vom Schladminger Studio Max Design gemeinsam mit Sunflower entwickelt wurde, setzte dieses Prinzip großartig um. Nach drei weiteren Ablegern (Anno 1503, Anno 1701, Anno 1404) wagte man zwei Zeitsprünge in die Zukunft (Anno 2070, Anno 2205), die von Fans und Kritikern gleichermaßen verhalten aufgenommen wurden. Nun kehrt man mit Anno 1800 mit der industriellen Revolution zu einem eher traditionellen Szenario zurück – und hat dabei die alte Anno-Formel wiederentdeckt.
Bereits der Wechsel des Szenarios war eine gute Entscheidung, denn die Produktionsketten hinter Filzhüten, Tortillas und Fenster sind deutlich einfacher nachvollziehbar als es bei den Waren der futuristischen Ableger der Fall war. Wie in den Vorgängern beginnt alles mit einem Schiff und einem Hafen, der als Handelszentrale dient. Alle Waren, die in der Kolonie produziert werden, müssen letztendlich dort landen und werden für die eigene Bevölkerung oder zum Handel genutzt.
Der Spieler muss weiterhin die Balance zwischen Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Entwicklung finden. Um die Schweinezucht am Laufen zu halten, werden entsprechend viele Bauern benötigt, die zugleich aber auch wieder gewisse Bedürfnisse, beispielsweise Schnaps und Kleidung, haben. Werden die Bedürfnisse nicht erfüllt, bleiben auch die Bauern aus. Erschwerend kommt das mit Anno 1800 eingeführte Klassensystem hinzu: Bei hoher Zufriedenheit können Bauernhäuser hochgestuft werden, sodass dann Arbeiter dort arbeiten. Diese schalten neue Gebäude und Produktionsketten, beispielsweise für Ziegel, frei, haben aber wiederum andere, schwerer erfüllbare Anforderungen.
Der Spieler muss stets sichergehen, dass die industrielle Revolution im vollen Schwung bleibt, damit man nicht hinter die – meist ohnedies friedlichen, aber diplomatisch anspruchsvollen – KI-Konkurrenten zurückfällt. Insgesamt gibt es fünf verschiedene Gesellschaftsklassen, nach jedem Aufstieg legt auch der Schwierigkeitsgrad zu. Insbesondere mit der fünften und letzten Klasse der Investoren wird es besonders komplex. Diese arbeiten nicht – das bedeutet, mit jedem Aufstieg gehen Arbeitskräfte aus darunterliegenden Klassen verloren – aber sie generieren die höchsten Steuereinnahmen und Einflusspunkte.
Kein Schnaps mehr da!
Eine Leiste oben zeigt an, ob noch bestimmte Personen einer Gesellschaftsklasse benötigt werden oder ob ein Überschuss vorherrscht. Leider ist dieser Bedarf dermaßen stark im Fluss, dass es oftmals schwer fällt, Problemstellen ausfindig zu machen. Beispielsweise produzierte ich zwar ausreichend Schnaps, das dazugehörige Lagerhaus war aber dermaßen weit entfernt, dass immer wieder Engpässe entstanden, wodurch mir Arbeiter abhanden kamen. Während ich verzweifelt versuchte, mit neuen Bauernhäusern aufzustocken, war das Schnapslager wieder gefüllt und die frustrierten Arbeiter kehrten zurück – und ich hatte plötzlich einen Bevölkerungsüberschuss.
Hier muss man wissen, wo man nachschaut. Die Zufriedenheit der Bewohner muss mühsam für jedes Gebäude einzeln überprüft werden. Denn während ein Handwerker-Haushalt beispielsweise überglücklich ist, dass eine Boxkampfarena in der Nähe liegt, ist das Gebäude daneben schon wieder zu weit weg, um von diesem Einfluss zu profitieren. An Werkzeugen, wie der farblichen Hervorhebung der Zufriedenheit, fehlt es leider. Meist wird man lediglich gewarnt, wenn ein Gebäude verlassen wurde sowie wenn ein Brand oder eine Krankheit ausgebrochen ist. Auch die Suche nach Schwächen in der Produktionskette ist vorwiegend dem Bauchgefühl überlassen, detaillierte Statistiken gibt es nicht. Wenn man ein Gebäude im Baumenü auswählt, sieht man lediglich, wie viele Gebäude des gleichen Typs auf der Insel zu finden sind.
Am Anfang ist das noch kein großes Problem, im späteren Spielverlauf – insbesondere nachdem Züge und Strom dazukommen und die Produktionsketten wesentlich umgestaltet werden müssen – sorgt das aber für Frust. In Bedrängnis kam ich glücklicherweise nie, Perfektionisten dürften aber stets ein Gefühl von leichter Unruhe verspüren, wenn sie ihre neu gestaltete Produktionskette nicht auf ihre Effizienz überprüfen können.
Gute Kampagne mit Abwechslung
Die Kampagne, die auch als Tutorial dient, ist hier leider keine große Hilfe. Obwohl man dort die wichtigsten Grundlagen erlernt, werden viele wichtige Funktionen, wie Handelsrouten, Einflusspunkte und Diplomatie, nur am Rande erwähnt. Hier wäre ein optionaler Assistent, ähnlich wie in Civilization VI, eine deutliche Hilfe, die vor allem vor frühen Fehlplanungen bewahren könnte. Das ist schade, denn abgesehen davon erzählt die Kampagne eine durchaus unterhaltsame und spannende Geschichte einer wohlhabenden Familie im 19. Jahrhundert, die durch Intrigen wieder zusammenfindet und Existenzen in alter und neuer Welt aufbauen muss.
Die Aufgaben sind gut in die Geschichte eingebettet und führen Spieler langsam an die komplexe Spielwelt heran. Um beispielsweise an die Kohle- und Eisenvorkommen der Insel zu gelangen, muss man ein Loch in einen Berg sprengen. Dafür benötigt man einen Sprengmeister, der, wie wir nach einer Mission erfahren, in einem Gefängnis festgehalten wird. Der Gefängnisleiter ist wiederum bereit, uns den Sprengmeister zu übergeben, wenn wir die – für uns damals – relativ hohe Kaution bezahlen. Das beschäftigt mich lange genug, um mit den vorhandenen Mitteln eine florierende Wirtschaft auf der Insel aufzubauen, um guten Gewissens die geforderte Summe bezahlen zu können.
Für Abwechslung sollen verschiedene Aufgaben sorgen, die man von den Bürgern der eigenen Stadt gestellt bekommt. Diese sind zumeist eher simpel und benötigen selten mehr als zwei Minuten Zeit. Sei es die Suche nach wilden Wölfen, die die Bauern terrorisieren, Sekt für eine Jungfamilie beschaffen oder ein Foto von einer neuen Fabrik machen – vor einer richtigen Herausforderung steht man nie. Das ist aber auch nicht der Sinn der Übung, denn die Aufgaben sollen den Spieler vielmehr dazu zwingen, genauer hinzuschauen. Überall in der Stadt wuseln die Bewohner von Gebäude zu Gebäude und verrichten ihre Arbeit. Nicht erst beim genauen Hinschauen wird deutlich, dass Anno 1800 das derzeit hübscheste Aufbauspiel auf dem Markt ist – es ist wie ein interaktives Wimmelbild, auf dem man stets etwas Neues entdecken kann.
Die Bewohneraufgaben entdeckt man lediglich, indem man regelmäßig die eigene Stadt im Blick behält. Es lohnt sich aber auch, bei der Konkurrenz genauer hinzusehen, da diese ebenfalls Aufträge anbietet. Diese sind meist etwas komplexer als bei den eigenen Bewohnern, beispielsweise Geleitschutz für Handelsschiffe oder die Jagd nach Piraten, dafür winken aber auch wertvollere Belohnungen. Meist sind relativ große Mengen von Geld im Spiel, die vor allem zu Beginn beim Ausbau der Stadt hilfreich sein können.
Kämpfe, Expeditionen und Zeitungen
Apropos Kämpfe: Diese sind weiterhin möglich, mittlerweile aber auf das Meer beschränkt. Hier kann sich der Spieler durch geschicktes Manövrieren und gezielte Angriffe einen Vorteil verschaffen, bei mehr als fünf Schiffen wird das Flottenmanagement aber rasch unübersichtlich. Letztendlich galt stets die Faustformel: Wer mehr Schiffe hat, geht als Sieger hervor. An gegnerischen Kolonien kann man sich finanziell beteiligen, wodurch man auch einen Teil der erwirtschafteten Gewinne erhält, man kann sie aber auch per Schiff erobern. Dazu beschießt man einfach solange die Festung, bis diese zerstört wurde. Nach dem Sieg wird man vor die Wahl gestellt: Entweder man erhält die erwirtschafteten Gewinne der Kolonie weiterhin regelmäßig ausbezahlt oder man bekommt die Insel, sämtliche Infrastruktur verschwindet aber. Bestehende Städte der Konkurrenz können nach der Eroberung nicht einfach selbst ausgebaut werden – wohl auch ein Versuch, um die Konkurrenz nicht einfach durch militärische Dominanz auszulöschen. Die ist aber ohnedies zu zahm, um die meisten Investitionen in Kampfschiffe und Gebäude zur Verteidigung zu rechtfertigen.
Da habe ich mich meist lieber den Expeditionen zugewandt, auf die man die Schiffe aus der eigenen Flotte schicken kann. Je nach Schiff, Ausstattung und Experten variieren die Erfolgschancen und möglichen Belohnungen, beispielsweise seltene Ressourcen, neue Experten oder ein einzigartiges Ausstellungsstück für den Zoo oder das Museum. Leider wiederholen sich die dabei erzählten Geschichten nach längerer Spielzeit recht häufig, weswegen man meist einfach die Option auswählt, die die höchste Erfolgswahrscheinlichkeit hat, statt dem Bauchgefühl und der Handlung zu folgen.
Ein weiterer Faktor, der kurzfristig in schwierigen Situationen helfen kann: Regelmäßig erscheint eine Zeitung, die die Leistung des Spielers kommentiert. Da sich die Zeitung glücklicherweise in unserem Besitz befindet, dürfen wir die Ausgabe immer vor der Veröffentlichung sehen und diese mit unseren Einflusspunkten bei Bedarf modifizieren. Statt einer kritischen Geschichte zu hungernden Arbeitern kommt ein positiver Artikel über neue Luxuswaren in das Propaganda-Blatt. Während das am Anfang noch relativ einfach möglich ist, muss man später genau abwägen, welche Boni man durch den gezielten Einsatz von Fake News bekommen möchte. Gewisse Verbündete reagieren zudem negativ auf den Einsatz von Propaganda und strafen das mit einer schlechteren Beziehung ab.
Mehr Sucht- und Frustfaktor
Blue Byte hat es tatsächlich geschafft, ein modernes Anno zu kreieren, das sich auf seine alten Stärken besinnt. Der Suchtfaktor ist genauso hoch wie bei den ersten Generationen der Aufbausimulation. Das ist auch den zahlreichen neuen Funktionen zu verdanken, die der ohnedies vielfältigen Spielwelt noch mehr Tiefe geben – selten war der Begriff Endlosspiel so zutreffend.
Doch die gesteigerte Komplexität hat auch ihre Tücken. Hin und wieder fühlte ich mich vom Mikromanagement etwas überfordert, zu dem man durch die fehlenden Statistiken und Hilfsmittel immer wieder gezwungen ist. Zu oft habe ich mich verzweifelt gefragt, wieso die Einnahmen plötzlich rasant abstürzen, nur um die Antwort dann nach minutenlanger Suche in einer entlegenen Siedlung zu finden. Doch hier dürfte auf Entwickler Blue Byte, der stets auf das Feedback der Fans eingeht, Verlass sein.
Dennoch ist Anno 1800 nahezu uneingeschränkt empfehlenswert. Nicht nur Fans von Aufbausimulationen werden sich in diesem Spiel für Stunden verlieren. Lediglich Neulingen rate ich, zumindest einen der frühen Vorgänger zuvor anzuspielen, um ein Gefühl für diese Welt zu bekommen.
Hardwareanforderungen (für 1080p bei 30 fps, niedrige Einstellungen):
Mindestens Intel i5-2500K oder AMD FX 6350, 8 Gigabyte Arbeitsspeicher, Nvidia Geforce GTX 660 oder AMD Radeon R7 260X
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