© Stefano Rellandini, Reuters

Kommentar

Anonymous: Das Dilemma der Maske

Das Schöne an der Maske ist, dass man eigentlich niemals wirklich weiß, wer sie trägt. Das erinnert an die "Thomas Crown Affäre", in welcher die Choreografie von Männern in Anzug und Melone für eine geschickte Ablenkung sorgt - gleichsam als Anspielung auf René Magrittes Leitmotiv, welches das Mondäne zum Außergewöhnlichen erhebt. Auf ähnliche Weise konvertiert auch die V-Maske das Gewöhnliche zum Außergewöhnlichen und sorgt gleichzeitig dafür, dass die Zuordnung derjenigen hinter Anonymous unmöglich wird.

Eine Maske ist natürlich viel mehr als nur ein Mittel der Täuschung. Sie ist ein Objekt der Verwandlung, die wie die Puppe des Bauchredners eine profunde Sprengkraft besitzt und für eine Neuordnung sorgen kann. Im Theater gibt es die Tradition des "Arbeitens mit der Maske", indem ein Schauspieler einem anderen die Kunst vermittelt, mit Emotionen und Offenbarungen umzugehen, um die Maske zum Leben zu erwecken.

Von Phantom bis Mozart und Nō
Im "Phantom der Oper" schirmt die Maske analog zur gepeinigten und mysteriösen Figur die tiefe Sensibilität ab. In "Amadeus", ruft eine maskierte Gestalt den Geist von Mozarts verstorbenem Vater hervor, was schließlich zum Schreiben des Requiems und schließlich seinem eigenen Tod führt. Im traditionellen japanischen Nō-Theater geht die Maske bis ins 14. Jahrhundert zurück. Die Nō-Maske weist typischerweise ein sehr spärliches ästhetisches Design auf, durch welches die Schauspieler komplexe Eigenschaften wie Anmut, Melancholie und das Sinnliche hervorzurufen versuchen - die Japaner bezeichnen diese ästhetische Form als "Yūgen".

Ungeachtet dessen, dass die Nō-Maske ausdruckslos erscheint, besitzt sie eine lebensechte Wandelbarkeit, die einzig durch ihre Bewegung hervorgerufen wird. Auf ähnliche Weise wie die Anonymous-Maske überzeichnet die drei-dimensionale Gestaltung der Nō-Maske gewisse Gesichtszüge, vor allem die Konturen des Mundes. Wird die Maske gekippt, scheinen diese Konturen sich im einfallenden Licht zu verändern. Das Mona-Lisa-ähnliche Lächeln weicht einem lauten Grinsen bis hin zum Zähnefletschen und wieder zurück. Eine Maske ist ein unheimlicher Anblick.

Batman und Zorro
Die Anonymous-Maske hat eine direkte Verbindung zur Ikonografie von Comics, Kultfilmen und Fernsehen. Superhelden wie Batman und Zorro streben als maskierte Ritter danach die Schwächsten der Schwachen zu verteidigen. In beiden Fällen setzen diese Ordnungshüter eine Maske auf, um ihre wahre Identität zu schützen. Und ebenfalls in beiden Fällen scheint die Maske sie mit übermenschlichen Fähigkeiten auszustatten.

Wie mittlerweile bestens bekannt ist, geht der Ursprung der Anonymous-Maske direkt auf die Comic-Serie "V for Vendetta" aus den 80er-Jahren zurück. Ihr Design wurde von den billigen Plastik-Masken des Verschwörers Guy Fawkes inspiriert, die in den 1980er-Jahren von Kindern in England im jährlichen Gedenken an den vereitelten Gunpowder-Plot im Jahr 1605 getragen wurden, als britische Katholiken den protestantischen König mitsamt der Regierung und dem Parlament aus der Welt schaffen wollten. Ironischerweise verwenden Anonymous-Aktivisten nun dieselbe Maske, die von Time-Warner als Merchandise für die Film-Adaption von "V wie Vendetta" ins Leben gerufen wurde.

Ironie vs. Politik der Inszenierung
Wie die Anti-Globalisierungs-Bewegungen der späten 1990er-Jahre, die etwa in Naomi Kleins Bestseller "No Logo" beschrieben sind, machen sich Gruppen wie Anonymous bewusst eine Ironie zu Eigen, welche zur Inszenierung der Politik als Spektakel und den Illusionen des Konsumdenkens passt. Es ist eine konfrontierende Antwort auf ein zirkulares, endemisches Problem. 1988 beschrieb Guy Debord, Gründungsmitglied der Situationistischen Internationale, wie in unserem gegenwärtigen Kontext keine Mainstream-Partei gewillt ist, den ökonomischen Status quo der kapitalistischen Konsumenten-Kultur zu unterwandern. Im heutigen Europa würde "keine Partei (…) nicht einmal mehr vorgeben, dass sie etwas Signifikantes verändern möchten. Die Ware ist über jede Kritik erhaben."

Zwischen und innerhalb verschiedener Protest-Gruppen weltweit existiert heute eine Vielzahl von vernetzten, nicht-hierarchischen Verbindungen. Maskierte Protestierende - seien sie nun offiziell Teil von Anonymous oder nicht - tauchen auf allen möglichen Straßendemonstrationen von Occupy bis ACTA- und SOPA-Gegnern auf. In Hardt und Negris Buch "Empire" entsprechen derartige Gruppen der Idee eines autonom konstruierten "counter-Empire“, die als alternative politische Organisationen die bestehenden Machstrukturen untergraben. Als Beitrag zur politischen Theorie gelingt es dem Buch sehr gut, das zentrale Problem zu beschreiben, das aus der empfundenen Distanz zwischen gewöhnlichen Bürgern und den global vernetzten Machtsystemen herrührt.

In gewissem Sinne konstatiert das Buch einen Zustand der unaufhörlichen Revolution, denn indem man eine Neuordnung des Systems vertritt, zwingt man auch wieder nur eine neue Art der Autorität und Herrschaft auf. "Counter-Empire" scheint also eine Form des Wandels zu definieren, aber komplett vor jeglichen Inhalten zurückzuschrecken. Dahingehend verwundert es kaum, dass gegenwärtige Protestbewegungen wie Occupy und Anonymous eine Tugend daraus machen, keine konkreten Forderungen zu stellen oder politische Autorität zu ergreifen.

Der Hegel`sche Gedanke
Die Maske in "V wie Vendetta" repräsentiert den quasi Hegel`schen Gedanken, dass während Leute zwar gebrochen und zensiert werden können, deren Ideen nicht aufzuhalten sind. Das Dilemma für Occupy ist, dass es nur das Konzept der unaufhörlichen Revolution besetzt, es also quasi nur um eine Art von Werk oder gar eine Unterwürfigkeit gegenüber der Occupy-Idee geht. Auf ähnliche Art fungiert Anonymous als eine Übung, die Machtstrukturen in den Vordergrund rückt, aber wenige bis keine Gesten setzt, um etwas Neues aufzubauen. Viele Anhänger der Occupy-Bewegung führen ihre Inspiration auf die sogenannten "indignados" (die "Empörten") zurück, die sich in Madrid und anderen spanischen Städten im Mai 2011 zusammenfanden, um deren Wut über die nationale Schuldenkrise und die Sparpolitik auszudrücken.

Die Empörungsbürger
Empörung beschreibt eine starke Emotion und Handlung. Gleichzeitig scheinen wir uns schwer damit zu tun, eine passende Form des Engagement zu finden, der über diesen unmittelbaren Gefühlsausdruck hinausgeht. Die Empörung scheint nun in die zwischenzeitliche Okkupation und das anonyme Verhöhnen der Technologien der vernetzten Macht transformiert worden zu sein. Aber was bedeutet es eigentlich, einen Punkt erreicht zu haben, an dem wir uns nur noch versteckt hinter einer Maske in der Politik engagieren können?

Während die gegenwärtigen Proteste wohl auf eine aufrichtige Empörung zurückgehen, resultieren sie doch allzu oft nur in einem temporären Kurzschluss von politischen und ökonomischen Strukturen. Ungeachtet dessen, dass Anonymous eine mächtige politische Idee repräsentiert, bleibt deren Dilemma, dass die Aktionen einfach eine Anonymität durch eine andere ersetzen. Wir tauschen die gesichtslosen, unzugänglichen Banken und Konzerne mit einem vergleichbar anonymen Konsortium von Technologie-begabten Aktivisten.

(Übersetzung: Martin Stepanek | zur

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Sunil Manghani

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Sunil Manghani is Reader in Critical and Cultural Theory at Winchester School of Art, University of Southampton (UK). He is author of "Image Critique and the Fall of the Berlin Wall" and “Image Studies: Theory and Practice”.

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