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Peter Glaser: Zukunftsreich

Auf du und du mit dem Werbeschmu

Schon lange war Experten klar, dass Computer Gefühle erkennen können müssen, um wirklich als intelligent zu gelten. 2019 kam der Durchbruch. Google-Entwickler hatten mit einem Programm namens FaceLook massenhaft die Mimik von Kinobesuchern gescannt, mit dem emotionalen Gehalt der zugehörigen Filmszenen abgeglichen und das Ergebnis als App verfügbar gemacht. Die Werbeindustrie sprang sofort darauf an. Endlich konnte sie ihre Werbebotschaften nicht nur an Zielgruppen richten, sondern jedes Individuum dort abholen, wo es sich emotional gerade befand.

Schniefdetektoren und Modedatenbanken

Digitale Reklameflächen wurden mit Sensoren ausgestattet, die Dinge wie Gesichtsausdruck, Gestik und Gangart interpretierten. Sie konnten wahrnehmen, ob jemand in der Menge hustete oder nieste. Labelscanner für Kleidermarken und Rückgriffe auf Modedatenbanken erlaubten es, auf das Herkunftsmilieu und das Einkommen von Passanten zu schließen. Die Leuchtwerbung von Bushaltestellen lernte, zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden und bestimmte Spots nur zu zeigen, wenn jeweils das eine oder andere Geschlecht hinschaute. Die Erkältungsgeräuscherkennung bot schniefend Vorbeigehenden in Echtzeit individuell passende Erkältungsmedikamente an.

Die Mühe, seine Aufmerksamkeit ständig auf sein Gegenüber zu richten, beherrschen Maschinen besser als Menschen. Bemerkenswerter Weise trat mit dem Aufkommen immer proaktiverer Billboards der Verkauf von Produkten in den Hintergrund. Viele Menschen fanden die Konversation mit einem smarten Schaufenster spannender als die angepriesenen Produkte. Die schlauen Werbemittel konnten an einem Fächer von Signalen nun auch Charaktertyp und Verführbarkeit eines Menschen erkennen.

Eifersüchtig auf KI-Puppen

Attraktive Unterwäschemodels verwickelten Spaziergänger in angeregte Unterhaltungen. Die Einkaufsstraßen füllten sich auch nach Geschäftsschluss – was allerdings nicht jeden freute. 2021 gab es die erste Scheidung aus Eifersucht auf eine KI-Schaufensterpuppe. Zudem gerieten Berufsstände wie Gesprächstherapeuten in eine zunehmend prekäre Lage. Schließlich waren die Werbefiguren darauf programmiert, das Individuum immer besser zu verstehen. Dazu mussten sie in seinem Innersten wühlen – und der Mensch genoss es.

Die Maschinen waren nicht mehr nur Durchreicher von Kaufanreizen, sie waren nun selbst das Produkt. Sie erzeugten in den Passanten ein unstillbares Verlangen, immer besser verstanden zu werden.

Unergründliche Intelligenz

In den frühen 2030er-Jahren hatten Marketingexperten Stanislaw Lems Meisterwerk „Solaris“ auf den Kopf gestellt. In dem Roman wird ein Planet beschrieben, der von einem unergründlich intelligenten Plasma umgeben ist. Wissenschaftler beobachten von einer Raumstation aus die rätselhaften Phänomene, deren schrecklichstes einem Neuankömmling dann begegnet: Das Plasma ist offenbar in der Lage, die tiefsten Geheimnisse eines Menschen zu lesen und körperlich werden zu lassen – das Wissen um die Schuld am Tod einer Geliebten etwa, die dem Neuankömmling fortan ständig in Person begegnet.

Konversation mit einer sprechenden Katze

Also wurden die Werbemittel zu einem neuartigen, algorithmisch gesteuerten Medium, das nicht nur den zu tiefsten Wunsch nach Glück und Wohlgefühl im Menschen weckte, sondern ihn zugleich auch erfüllte. Was früher Leuchtkästen und Bildschirmwände gewesen waren, entwickelte sich zu modularen, mobilen Marketingeinheiten. So konnten sich aus digitalen Plakatwänden, die einen mit ihrer sensorischen Intelligenz ins Visier nahmen, autonom bewegliche Teile lösen, die einen auf allerfreundlichste und einnehmende Weise begleiteten.

Die „Understander“, wie die mit quasi psychologischem Röntgenblick ausgestatteten Drohnen genannt wurden, konnten ihre Form frei verändern, sodass man beispielsweise unvermittelt eine hochinteressante Konversation mit einer sprechenden Katze führte, die nach drei Minuten das Texttaxameter einschaltete. Merkwürdig wurde es nur manchmal, wenn man mit einem einfühlsamen Menschen ins Gespräch kam und nicht sicher war, ob es tatsächlich ein Mensch war oder vielleicht doch eine supernette Maschine.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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