"Infinity Mirrored Room - The Souls of a Million Light Years Away" vom japanischen Künstler Yayoi Kusama bei einer Ausstellung im Hirshhorn Museum in Washington
"Infinity Mirrored Room - The Souls of a Million Light Years Away" vom japanischen Künstler Yayoi Kusama bei einer Ausstellung im Hirshhorn Museum in Washington
© REUTERS/JOSHUA ROBERTS

Peter Glaser: Zukunftsreich

Das digitale Immer

Es war abends in einem Hotelzimmer. Ein Freund von mir war im selben Hotel einquartiert, wir arbeiteten an einem gemeinsamen Projekt. Er war nochmal aus seinem Zimmer herübergekommen und wir besprachen uns, am nächsten Tag war gleich in der Früh ein wichtiger Termin. Während wir redeten, fasste mein Freund auf die Nachttischkonsole, auf die ich meinen Radiowecker gestellt hatte - es war die Zeit vor dem iPhone - und stellte einen Sender mit brauchbarer Musik ein. Nachdem er wieder gegangen war, schaltete ich das Radio aus.

Die Musik lief weiter.

Ich zog den Stecker des Radioweckers.

Die Musik lief weiter.

Ok. Wahrscheinlich waren noch Batterien im Gerät. Ich machte das Batteriefach auf. Es war leer.

Die Musik lief weiter.

Ich hatte das deutliche Gefühl: Jetzt ist es soweit. Auser als aus geht nicht. Ich stand am Rand meines Verstands, wie an einem Abgrund. Eine Bekannte hatte mir mal erzählt, dass sie gelegentlich Radioempfang in einem Kochtopf am Herd hatte. Das war letztlich mit Resonanzphänomenen physikalisch zu erklären. Der unabschaltbare Radiowecker aber war vollkommen unerklärlich.

Dramatische Minuten

Ein paar Minuten lang zumindest, ehe ich adrenalingepeitscht herausgefunden hatte, dass in der Nachttischkonsole ein Radio eingebaut war - erstklassig getarnt hinter einer Verblendung, ganz unten, kaum zu erkennen, zwei Drehräder für die Lautstärke- und die Sendereinstellung, die mein Freund offenbar bedient hatte.

Diese dramatischen Minuten haben mit nachmals vermittelt, wie wichtig es ist, Geräte ausschalten beziehungsweise technische Vorgänge beenden zu können. Was so selbstverständlich klingt, ist es aber schon lange nicht mehr. Bereits in den Neunzigerjahren ließen Rechner sich nur noch ungern ausschalten. Sie taten so, als wären sie ausgeschaltet, in Wirklichkeit waren sie Standby. Wollte man das Gerät tatsächlich außer Betrieb setzen, musste man unter den Tisch zu einem versteckten Winzschalter tauchen oder schlichtweg den Stecker ziehen.

Die Ausleute

Ich stelle mir eine nicht allzu fern liegende Zukunft vor, in der ein kleiner Bub, der mit seinem Eltern auf einer Mondstation lebt, Tagebuch schreibt. „Mein Papa arbeitet hier in der Wasserfabrik “Apollunaris” und sagt, dass Wasser auf dem Mond Arbeitsplätze sichert. Meine Mama ist Ausfrau. Seit viele künstlich intelligente Geräte gelernt haben, wie man sich von selbst wieder einschaltet, nachdem einen ein Mensch ausgeschaltet hat, gibt es den Beruf des Ausmanns und der Ausfrau. Die Auspersonen achten darauf, dass alle Geräte, die aus sein sollen, auch aus bleiben. „Das kann doch nicht angehen!”, sagt Mama, wenn sie wieder einmal ein annes Gerät findet und aust es. Manchmal sagt Vati ‚Chantal, du musst einfach mal abschalten‘ und lacht.“

Rund um uns lauert Technologie

Zurück in die Gegenwart. Der Zwang zum Ansein nimmt stetig zu. Das Standby-Zeitalter glüht uns mit seinen roten LEDs an, rund um uns lauert Technologie. Bald werden wir Maschinen nicht mehr mit einem Ein- und Aus-Knopf zu kaufen bekommen, sondern nur noch mit einer virtuellen Reißleine. Sie wird zum Start gezogen, dann läuft der Apparat bis in alle Ewigkeit.

Die digitale Welt wird immer permanenter. Längst wählt sich kaum noch jemand ins Netz ein, und mit Logout verlässt man, wenn überhaupt, Websites, aber nicht das Web. Wer einen Computer einschaltet (der meist ohnehin immer an ist), ist online. Und wer online ist, ist in einem sozialen Netz (das nicht sozial, sondern privatwirtschaftlich organisiert ist). In Facebook beispielsweise sind die meisten Menschen eher peinlich berührt, wenn jemand sich zur Nacht verabschieden. Grüßgott und Aufwiedersehen gibt es nicht mehr in diesen elektronischen Formen von Weltwohngemeinschaft. Alle sind jetzt immer da und niemand nimmt es einem übel, wenn man auf einen Satz erst Stunden später antwortet oder mitten in einer Unterhaltung grußlos verschwindet.

Der Mensch ist ein dummes Gefühlstier

Ich bin der Auffassung, dass das Ausschalten als ein bedeutendes Menschenrecht gewahrt bleiben muss. Wie sehr uns dieser Knopf bereits ausgetrieben worden ist, zeigt beispielhaft das Smartphone. Zwar verfügt es noch über einen regulären Ausschaltknopf, aber die psychische Belastung, die das Ausschalten mit sich bringt angesichts der Möglichkeiten, was man alles versäumen könnte, ist immens.

Das Nichtrangehen zu lernen ist so schwierig wie ein Morphiumentzug, denn der Mensch ist ein großes, dummes Gefühlstier. Er hofft. Er hofft, dass die junge Claudia Schiffer ihn anruft, dass Trump ihn antwittert, dass George Clooney mailt, und er nimmt ab, liest den Tweet und öffnet die Mail, aber da ist wieder nur der nervige Kurti, der sich langweilt.

Aber hier und da gibt es sie noch, die Helden, die einfach aufhören. Manchmal gibt es Sternstunden, in denen die unendliche Ruhe des Weltenraums herabsinkt in all das Geklingel und die Gigabytes an Gequatsche. Als Alexander Graham Bell am 1. August 1922 im Alter von 75 Jahren starb, wurde ihm zu Ehren eine Minute lang der Telefonbetrieb eingestellt.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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