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Meinung

Das Pandemie-Dilemma

Zwei Geheimagenten werden festgenommen. Die Staatsanwältin möchte eigentlich beide wegen Hochverrats hinter Gitter bringen, doch die Beweislage ist dünn: Wirklich nachweisen kann man den beiden nur illegalen Waffenbesitz – außer einer von ihnen legt ein Geständnis ab.

Getrennt voneinander macht man beiden einen Vorschlag: Wenn einer von ihnen gesteht, wird er freigelassen, und der andere muss lebenslang ins Gefängnis. Wenn beide gestehen, drohen zehn Jahre Haft. Wenn keiner gesteht, werden beide für ein Jahr eingesperrt. Wie sollen sich die beiden verhalten?

Dieses „Gefangenendilemma“ ist ein bekanntes Gedankenspiel aus der mathematischen Spieltheorie. Es zeigt den Unterschied zwischen egoistischem und kooperativem Verhalten: Könnten die beiden Geheimagenten kooperieren, würden sie sich darauf einigen, nicht zu gestehen und kämen mit einer einjährigen Haftstrafe davon. Doch weil sie einzeln entscheiden müssen, sieht die Sache anders aus: Egal, ob der eine gesteht oder nicht – in beiden Fällen kann der andere durch ein Geständnis seine persönliche Situation verbessern. Daher werden wohl beide gestehen und müssen für zehn Jahre ins Gefängnis.

Gemeinsam gefangen in der Pandemie

Das erinnert ein bisschen an unsere Situation in der Corona-Pandemie: Am klügsten wäre es, wenn wir alle unser Verhalten anpassen würden: Abstand einhalten, nicht zu viele Leute treffen, wenn nötig Maske tragen. Wenn aber jeder für sich selbst entscheidet, sieht die Sache anders aus: Ändern die anderen ihr Verhalten nicht, dann lässt sich die zweite Pandemie-Welle ohnehin nicht aufhalten. Dann will ich wenigstens die paar Tage bis dahin noch genießen. Wenn sich hingegen die meisten anderen Leute vorsichtig verhalten, dann ist die Gefahr ohnehin gebannt, dann macht es auch nichts, wenn ich die Regeln breche. Und so verbreitet sich eine Sorglosigkeit, die uns geradewegs in den nächsten COVID-Ausbruch führt.

Dieses Pandemie-Dilemma ist mathematisch komplizierter als das Gefangenendilemma, weil viele Leute eine Rolle spielen, nicht nur zwei. Aber die Grundidee ist dieselbe: Manchmal kommt man nur zur besten Lösung, wenn man Information austauscht und die Strategie gemeinsam festlegt. Die beiden Gefangenen dürfen das nicht. Wir aber schon.

Eigenverantwortung ist keine Strategie

Sinnlos ist es daher, wenn die Politik jetzt von „Eigenverantwortung“ spricht. Genau das ist eben nicht die Lösung. Wenn jeder die Regeln befolgt, die er sich selbst ausgedacht hat, können wir dem Pandemie-Dilemma nicht entkommen. Wir brauchen eine kooperative Strategie. Dazu gehört ein klares gemeinsames Verständnis dafür, was wir als gefährliches Risikoverhalten betrachten sollen und welche harmloseren Risiken wir derzeit akzeptabel finden.

Wie viele Personen sollten wir pro Woche maximal treffen? Sollten wir Vereinstreffen in Innenräumen lieber noch meiden? Sind Besuche im Altersheim in Ordnung oder zu gefährlich? Wenn wir dazu eine wohlüberlegte Meinung haben, nützt das niemandem etwas, so lange andere Leute die Sache anders sehen. Wir brauchen logisch nachvollziehbare Antworten auf solche Fragen. Nur dann können wir zu einer gesellschaftlich akzeptierten Gemeinschaftsstrategie finden.

Derzeit haben wir in bestimmten Bereichen Verbote, deren Sinn teilweise nicht klar ist, und in allen anderen Bereichen gilt: Entscheidet doch einfach selbst! Das führt dann dazu, dass manche Leute jede Vorsicht über Bord werfen, während andere sich über jede Kleinigkeit aufregen und in jeder harmlosen Fröhlichkeit eine tödliche Gefahr sehen.

Unsere gemeinsame Strategie kann nur von der Politik festgelegt werden, auf Basis transparenter wissenschaftlicher Fakten. Die Bevölkerung ist weder dumm noch bösartig: An Regeln, die verständlich kommuniziert werden und logisch nachvollziehbar sind, würden sich die meisten Leute sicher halten. Strafandrohungen wären wohl gar nicht nötig.

Aber auch wenn die Bevölkerung prinzipiell kooperationsbereit ist, nützt das noch lange nichts, solange wir nicht wissen, wie die Kooperation überhaupt aussehen soll. Dann tappen wir in die Egoismus-Falle, genau wie die beiden Geheimagenten im Gefangenendilemma.

Zur Person

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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