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Peter Glaser: Zukunftsreich

Facebook, Haus 8

So wie der Beginn schriftlicher Aufzeichnungen einen Meilenstein in der Menschheitsgeschichte markiert, könnten neue Technologien zur Handhabung immens großer Datenmengen einen weiteren solchen Meilenstein setzen – den Beginn von Aufzeichnungsformen, die später einmal Zeitreisen möglich machen werden, so wie wir sie bisher nur aus Fiktionen kennen.

Hochentwickelte VR-Technologie (die vielleicht sogar ohne die albernen Gesichtsbrillen auskommt) kann in einer nicht allzu fernen Zukunft das Eintauchen in umfassend digitalisierte Erinnerungen möglich machen, eigene, fremde und natürlich auch künstliche ;).

Mark Twain und das Internet

Wearables, deren Leistungs- und Speicherfähigkeit den heutigen Stand weit übertreffen, könnten das, was die Pioniere computerisierten Erinnerns „Lifelogging“ nennen, zu einer Alltäglichkeit machen. Der Übergang von Science Fiction zu Faction und greifbarer Realität ist nichts Ungewöhnliches mehr. Bereits 1898 beschrieb Mark Twain eine Kommunikationstechnologie, die dem Internet sehr ähnelt („Das tägliche weltweite Geschehen wurde für jedermann sichtbar und diskutierbar gemacht“). Und ob Satelliten, Faxgeräte oder Tricorder und Wearables - alias Smartphones und Selftracker -, was einst vergnügliche Fantasterei war, gibt es nun schlichtweg zu kaufen.

Wie es weitergeht. wenn die technische Zukunft immer mehr von der Gegenwart eingeholt wird, war auch Thema der gerade zu Ende gegangen Facebook Developer Conference im kalifornischen San Jose. Der Titel der Veranstaltung - „F8“ - lässt sich aussprechen wie das englische Wort „faith“, zu Deutsch „Glaube“. Und der Glaube an die Entwicklung neuer menschlicher Fähigkeiten mit technologischer Hilfe ist es auch, der den Entwicklern eine Leitrichtung skizzieren soll, in die der digitale Zug fährt.

Das geheimnisvolle Building 8

Das sozusagen architektonische Fundament der Konferenz geht zurück auf das Facebook-Labor „Building 8“, in dem an geheimen Zukunftsprojekten gearbeitet wird. „Sozusagen“, weil es ein Haus 8 auf dem Facebook-Campus gar nicht gibt (die Bürogebäude sind von 10 bis 20 nummeriert).

Allerdings war bereits im Sommer letzten Jahres von einem damals „Area 404” genannten Bereich die Rede - eine Anspielung sowohl auf die legendäre Ufo-Experimentierstätte Area 51 als auch auf den Fehlercode 4o4 Page Not Found. Es handelt sich dabei um rund 2.000 Quadratmeter Fläche in - dem real existierenden - Building 17, die sich die Facebook-Entwicklungsabteilung unter den Nagel gerissen hat. Erste Umbaumaßnahme: der Vortrieb von massiven Betonstützen in den Boden, um die Tragfähigkeit für schwere Maschinen zu gewährleisten.

In Facebook hineindenken

Anlässlich der F8 jedenfalls werden die geheimen Zukunftsprojekten dann aus PR-Gründen ein bisschen weniger geheim, so etwa die vorgestellten Forschungen zu Gedankenlesegeräten, die einem Künftig das Eintippen ersparen sollen. Man denkt dann einfach etwas in Facebook hinein, fertig.

Wie wäre es, wenn Selftracking-Geräte wie etwa Fitness-Armbänder statt einfach nur Puls, eine Laufroute oder von einer Bodycam aufgezeichnete Videoschnipsel zu speichern, Daten in wesentlich umfassenderem Umfang aufzeichnen? – nicht nur eine, sondern alle Bewegungen, die Umgebung Sensorround inklusive Klima und Blumenduft. Eine totale Erinnerung, die darüber hinaus nicht nur im Inneren eines Individuums existiert, sondern von jedem geteilt werden kann.

Werden Dichter Gedankenlesungen abhalten?

Die medialen Formen des Erinnerns werden immer umfassender und lebenstiefer werden. Schon die derzeitige Speicher- und Datenverarbeitungskapazität versetzt Institutionen wie die NSA in die Lage, Netzdaten aller weltweiten Kommunikationsströme über längere Zeiträume festzuhalten und nach Bedarf zu durchsuchen. Wohin werden uns die Forschungen in Haus 8 führen? Werden Schriftsteller dann Gedankenlesungen abhalten? Und was passiert eigentlich, wenn ein dummer Mensch die Gedanken eines klugen Menschen liest? Vielleicht kommt das Denken auch insgesamt wieder in Mode.

Und Room 8

Vielleicht geht übrigens auch der Name des geheimnisvollen „Building 8“ auf einen verschwiegenen Vorläufer zurück – auf eine Katze namens „Room 8“. Im Jahr 1952 kam ein streunender Kater in eine Volksschule in Los Angeles. Die Schüler adoptierten ihn und teilten ihre Pausenbrote mit ihm. Der Kater, der sich in Room 8 niedergelassen hatte und also Room 8 gerufen wurde, blieb 15 Jahre lang. Den Sommer über verschwand er und tauchte am Ende der Ferien jedes Mal wieder auf. Zeitungen schrieben über die Katze, Fernsehkameras wurden zu Schulanfang aufgebaut und über die Rückkehr des Streuners in die Schule berichtet. Room 8 wurde berühmt. Manchmal kamen täglich bis zu 100 Briefe, die an die Katze adressiert waren.

Room 8 starb im August 1968 mit 22 Jahren an den Folgen eines Katzenkampfs. Sein Nachruf in der Los Angeles Times lief über drei Spalten und stand neben den Nachrufen auf bedeutende Politiker. Seine Pfotenabdrücke sind im Gehsteig vor der Schule verewigt. Noch heute erinnern sich Leute aus der Nachbarschaft in Blogs an Room 8. Wer genaueres wissen will, kann seine Katze fragen – oder sich von ihr seine Gedanken lesen lassen.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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