Ein wütender Mann in Anzug schreit an einem Tisch.
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Meinung

Man darf ja nichts mehr sagen!

Alle Menschen haben das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Die Zeiten sind hart. Man darf ja heute nichts mehr sagen. Das sagen zumindest Leute, die ständig öffentlich sagen, was man angeblich nicht mehr öffentlich sagen darf, und dabei sagenhafte Zuschauerzahlen erreichen.

Fernsehstars, Professoren, Comedians – immer mehr nutzen diesen Trick: Man behauptet einfach, man werde von einer „politisch korrekten Meinungsdiktatur“ unterdrückt, und schon darf man ungeniert jeden Unsinn verbreiten. Wird man kritisiert, erklärt man das zum Beweis, dass die böse Meinungsdiktatur wirklich existiert.

Man kann den Klimawandel kleinreden, Frauen abwerten, Minderheiten beleidigen – und wenn jemand „Moment mal!“ sagt, ist das Cancel Culture. Es ist zum Mainstream geworden, sich vom Mainstream unterdrückt zu fühlen. Man attackiert benachteiligte Minderheiten, und wenn man dafür attackiert wird, erklärt man sich selbst zur benachteiligten Minderheit. Man begibt sich in die Opferrolle und jammert darüber, dass die anderen sich ständig in die Opferrolle begeben.

Keine Belege für „Woke Cancel Culture“

Auch in der Wissenschaft lässt sich das beobachten: Die Universitäten, so heißt es, seien zur woken Bastion der Political Correctness geworden, wo keine „unorthodoxe Meinung“ mehr möglich sei. Das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ führt sogar eine Liste angeblicher Unterdrückungsfälle. Aber was findet man dort? Zensur? Gewalt? Berufsverbote? Nein: einen abgesagten Vortrag hier, ein bisschen Protest der Studierenden dort, und eine Fachzeitschrift, die ernsthaft in ihren ethischen Richtlinien fordert, „die Würde und Rechte von Menschengruppen zu achten“. Was für ein Skandal! Wo kommen wir denn hin, wenn man vom politisch korrekten Establishment einfach aufgefordert wird, Menschenwürde zu achten!

Darf man heute nichts mehr sagen? Das Gegenteil ist wahr. Politisch inkorrekte Meinungen führen nicht zu sozialer Ächtung und beruflichem Untergang, sie führen zu hohen Klickzahlen und klingelnden Kassen. Provokante Thesen, die man früher vielleicht nur verhalten am Stammtisch ausgetauscht hätte, sind heute tauglich fürs Hauptabendprogramm.

Sucharit Bhakdi – wissenschaftliche längst widerlegt – erreicht ein Massenpublikum, von dem ehrliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur träumen können. Daniele Ganser – verfangen in politischen Verschwörungstheorien – füllt große Hallen. Andrew Tate – bekannt für testosteronhaltige Frauenhass-Provokationen – wird auf TikTok als Vorbild gefeiert. Ist das die Meinungsunterdrückung, von der alle reden?

Die Angst vor Cancel Culture erinnert an die Angst vor dem Weißen Hai, als Steven Spielbergs „Jaws“ in die Kinos kam. Alle reden darüber, aber kaum jemand ist dem Problem tatsächlich begegnet, und die echten Gefahren lauern ganz woanders.

Echte Unterdrückung – von oben nach unten

Tatsache ist nämlich auch: Zensur und Meinungsunterdrückung gibt es wirklich. Aber nicht dort, wo Bestsellerautoren über schlechte Rezensionen jammern, sondern dort, wo Regierungen beschließen, was gesagt werden darf. In Ungarn wurde die Autonomie der Universitäten zerschlagen, Gender Studies gleich ganz gestrichen, die Central European University aus dem Land geekelt. In den USA wurden Forschungsprojekte gecancelt, Jobs gekündigt, Listen unerwünschter Wörter erstellt. In Russland wird man entlassen oder bestraft, wenn man falsche Begriffe verwendet oder an unerwünschten Fragen forscht.

Das ist echte Cancel Culture – Zensur von oben nach unten. Machtausübung der Wenigen über viele. Als Medien-Star oder Uni-Professor Kritik einstecken zu müssen, ist keine Cancel Culture. Das ist Feedback.

Alle Menschen haben das Recht auf freie Meinungsäußerung. Aber manche verwechseln das mit dem Recht, dass ihnen dabei auch zugehört wird. Oder mit dem Recht, danach von Widerspruch verschont zu werden. Und dieses Recht hat niemand.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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