
Wer grundlegende Regeln nicht akzeptiert, dem braucht man auch nicht mit Fakten zu kommen.
Ohne Anstand keine Fakten
Wir müssen einfach für mehr Bildung sorgen, dachte ich lange. Dann wird alles gut. Wir müssen der breiten Bevölkerung wissenschaftliche Fakten näherbringen. Wir müssen den Leuten zeigen, wie logisches, mathematisches Denken funktioniert, wie man mit statistischen Daten umgeht und Fehlschlüsse vermeidet.
Dann, so war ich überzeugt, werden Aberglaube und irrationale Angstmacherei verschwinden. Über Fake News und Verschwörungstheorien wird man nur noch mitleidig den Kopf schütteln. Ein rationales Zeitalter wird beginnen, in dem man alle Streitfragen friedlich auf Basis der Wissenschaft löst.
Diese Vorstellung war außerordentlich dumm. Nein, so funktioniert das nicht.
Wissen, Wissen überall
Noch nie gab es so viel Wissenschaft wie heute, und noch nie war es für so viele Leute so einfach, an sie heranzukommen. Das gesammelte Wissen der Menschheit ist uns per Mausklick in Sekunden verfügbar. Unzählige Male wurden wichtige Themen von klugen Leuten sorgfältig aufbereitet, für jedes Wissensniveau, für jeden Geschmack. Als Fernsehdoku, Bildergalerie oder Kurzvideo-Serie. Wenn man wollte, könnte man ununterbrochen staunen, lernen und klüger werden.
Aber man entscheidet sich stattdessen für den Stumpfsinn: Für den Politiker, der sich ohne sachliche Argumente gegen die wichtige, sichere und bestens getestete Polio-Impfung ausspricht. Für den ahnungslosen Hobbyforscher, der mit einem selbst gebastelten Unsinns-Experiment die gesamte Klimawissenschaft widerlegt haben will. Für den Influencer, der Teenagern einredet, dass Frauen eben doch von Natur aus ungeeignet für Technik sind und lieber zu Hause kochen und Kinder hüten sollten.
Das liegt nicht daran, dass diesen Leuten die entscheidenden wissenschaftlichen Fakten fehlen. Es liegt auch nicht daran, dass sie ihnen niemand auf ausreichend leicht verständliche Art erklärt hat. Was fehlt, ist Anstand. Was fehlt, ist eine moralische Grundbildung.
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Das Recht des Stärkeren statt Suche nach Wahrheit
Wenn man möchte, dass sich andere an Regeln halten, muss man sich auch selbst an Regeln halten. Wenn einfach nur das Recht des Stärkeren gilt, ist das schlecht für alle – bis auf den, der gerade der Stärkste ist, und das kann sich rasch ändern. Man kann nicht einfach mitten im Spiel die Regeln ändern, wenn einem das Ergebnis nicht gefällt. Das sind Grundsätze, die man normalerweise im Kindergartenalter lernt. Dieser Lernprozess ist nicht immer einfach. Oft bringt er Tobsuchtsanfälle und durchs Kinderzimmer geschleuderte Spielfiguren mit sich, aber die meisten Leute schaffen das. Andere hingegen, das scheint immer klarer, schaffen das ihr ganzes Leben nicht – und schämen sich nicht einmal dafür.
Fakten, Bildung, Wissenschaft – das kann nur dann wirksam werden, wenn es eine Basis gemeinsamer moralischer Spielregeln gibt: Wenn eine Meinung als falsch entlarvt wurde, wird sie durch Wiederholung nicht richtig. Wenn man einen empörenden Einzelfall herauspickt, entkräftet das keine Gegenthese, die von vielen anders gelagerten Fällen untermauert wird. Wenn man durch Fakten klar widerlegt wurde, gibt man das zu.
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Wenn wir uns auf ein solches Anstands-Minimum nicht mehr einigen können, ist jede Argumentation sinnlos, ist jeder Faktencheck umsonst, ist jede wissenschaftliche Analyse Zeitverschwendung. Wir sind dann in derselben Situation wie ein Schachgroßmeister, der gegen eine Taube verliert, weil die Taube alle Regeln ignoriert, die Figuren umwirft und auf das Spielbrett kackt. Dagegen kann man nicht gewinnen, auch wenn man die besten Züge kennt.
Es reicht nicht, Wissenschaft zu feiern und Fakten zu vermitteln. Wir müssen es irgendwie schaffen, auch eine moralische Grundbildung zu verankern. Es darf sich in unserer Gesellschaft nicht lohnen, ein rücksichtsloses Ekelpaket zu sein. Sonst ist all unser Wissen einfach umsonst.
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