
Künstliche Intelligenz und die Weltherrschaft
Es war für viele ein Schock. Die Menschheit hatte verloren, die Maschinen hatten gewonnen. Beim Schachspielen – also bei einer Tätigkeit, die so etwas wie ein Symbol für intelligentes Handeln ist – besiegte im Jahr 1997 zum ersten Mal ein Computer den amtierenden Schachweltmeister. Deep Blue hieß der Sieger, Gary Kasparow der Verlierer.
Aber was änderte sich dadurch? Erstaunlicherweise fast gar nichts. Höchstens die übliche Definition des Begriffs „Intelligenz“: Wenn Maschinen besser Schach spielen als Menschen, ist dann also Schachspielen vielleicht doch nicht der beste Indikator für Intelligenz? Schließlich gibt es andere Dinge, die viel schwerer zu automatisieren sind. So kann etwa jedes Kind verschiedene Tiere auf einem Foto erkennen. Ist das Intelligenz? Deep Blue so etwas beizubringen, wäre völlig unmöglich gewesen.
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AI soll man nie unterschätzen!
Doch es blieb nicht unmöglich. 2015 übertraf das Neuronale Netzwerk ResNet von Microsoft menschliche Leistungen beim Zuordnen von Bildern. Ein Computer kann besser erkennen, ob auf einem Foto eine Katze zu sehen ist, als der typische Mensch. Na gut, könnte man nun sagen, dann ist das eben auch kein gut gewählter Maßstab für Intelligenz. Was ist mit dem Erklären von Zusammenhängen? Mit dem Analysieren wissenschaftlicher Erkenntnisse? Mit dem Schreiben von Gedichten? Das wird nie ein Computer schaffen!
Auch das war falsch. Vor gut zwei Jahren kam ChatGPT auf den Markt – das erste Computer-Tool, mit dem sich auf überzeugende Weise Gespräche führen lassen. Und nicht nur das: ChatGPT kann mittlerweile innerhalb von Sekunden Geschichten erfinden, komplizierte wissenschaftliche Texte zusammenfassen oder Sonette im Shakespeare-Stil liefern. Noch vor wenigen Jahren hätten wohl viele AI-Profis noch in klugen Worten erklärt, warum so etwas niemals möglich sein wird.
Wir führen also ein Rückzugsgefecht, in dem wir die Definition von „Intelligenz“ immer weiter verbiegen, sodass sie von Computern nicht erfüllt wird. Gehört zu Intelligenz vielleicht, einen Geschirrspüler einräumen zu können? Das nimmt uns ChatGPT ärgerlicherweise immer noch nicht ab.
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AI soll man aber auch nicht überschätzen
Es gab aber auch Leute, die der AI schon früh fast alles zutrauten. Schon seit Jahrzehnten wird über die sogenannte „Singularität“ spekuliert: Wenn AI immer besser wird, dann wird sie auch immer besser darin, sich selbst zu verbessern. Wenn sie immer schneller lernt, immer schneller dazuzulernen, dann entsteht ein Teufelskreis, der sich selbst verstärkt. Ein unaufhaltsamer Lawineneffekt, eine gewaltige Intelligenz-Explosion, bei der wir Menschen nur noch tatenlos zusehen können.
Der Computer-Pionier Marvin Minsky etwa prognostizierte bereits 1970: „In 3 bis 8 Jahren werden wir eine Maschine mit der generellen Intelligenz eines durchschnittlichen Menschen haben.“ Die Entwicklung werde sich immer rascher beschleunigen, die Maschinen würden automatisch dazulernen und bald so intelligent sein, dass sie uns wie übermächtige Götter erscheinen müssen. „Wenn wir Glück haben, entscheiden sie sich vielleicht, uns als Haustiere zu halten“, meinte Minsky.
Doch diese Singularität blieb aus. ChatGPT wird zwar laufend besser und liefert beeindruckende Resultate, aber von einem explosionsartigen Intelligenzanstieg kann keine Rede sein. Die Fortschritte von einer Generation zur nächsten scheinen eher kleiner zu werden.
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AI-Stagnation?
Kommen wir nach einer Phase der AI-Sensationen in eine Phase der AI-Stagnation? Ist bei der neuen Welle der künstlichen Intelligenz ein Plateau erreicht? Das ist schwer zu sagen. Aber jedenfalls hat noch immer keine künstliche Intelligenz die Weltherrschaft an sich gerissen. Und ein Blick auf die aktuelle Weltpolitik erweckt auch nicht den Eindruck, dass diese Möglichkeit gerade unsere größte Sorge sein sollte.
Wir haben Künstliche Intelligenz in der Vergangenheit also sowohl maßlos überschätzt als auch maßlos unterschätzt. Daraus können wir eigentlich nur eines lernen: Wir sollten Vorhersagen über AI nicht vertrauen. Sowohl „das wird niemals möglich sein“ als auch „plötzlich wird ALLES möglich sein“ sind Prognosen, die man sehr skeptisch sehen sollte. Wir wissen nicht, wohin die Reise geht. Es ist bitter, das zugeben zu müssen – denn bei einem derart wichtigen Thema sollten wir eigentlich einen klaren Blick in die Zukunft haben. Aber wir haben ihn nicht. Selbsternannte Zukunftsexperten haben ihn auch nicht. Wir sollten dazu stehen.
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