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Wissenschaft & Blödsinn

Giftige Chlorbleiche als Wundermedizin

Alternativmedizin ist ja harmlos! Lasst die Leute doch mit ihren putzigen Scheintherapien spielen, wenn es nicht hilft, dann schadet es auch nicht.

Diese Einstellung ist weit verbreitet, und meistens ist sie nicht so ganz falsch: Das Verletzungsrisiko bei einer Auramassage ist gering, vom telepathischen Fernheiler bekommt man keine Antibiotikaresistenzen, und mit wirkstofffreier Homöopathie kann man sich nicht vergiften. Doch manchmal gibt es auch Alternativmedizin, die wirklich bedrohlich sein kann – und dazu gehört das angebliche Wundermittel MMS.

Die Abkürzung MMS steht für „Miracle Mineral Supplement“. Der Anspruch der Wunderheilung steckt also bereits im Namen. Erfunden wurde MMS vom Amerikaner Jim Humble, der es damit zu internationaler Bekanntheit brachte. Der Titel des Wunderheilers war ihm aber offenbar nicht genug, er gründete außerdem seine eigene Kirche und ernannte sich selbst zum Bischof. Nur keine falsche Bescheidenheit!

Chlorgas zum Selbermachen

Humbles MMS ist keine geheimnisvolle neuartige Substanz, sondern eine einfache Natriumchlorit-Lösung. Das darf man nicht mit Natriumchlorid verwechseln – dem gewöhnlichen Kochsalz. Natriumchlorit ist im Gegensatz dazu alles andere als harmlos, es ist giftig, ätzend und umweltschädlich. Wenn es mit Säure reagiert, dann entsteht Chlordioxid, ein industrielles Bleichmittel.

Genau aus diesem Grund muss man vorsichtig sein, wenn man das Badezimmer mit chlorhaltigen Schimmelentfernern putzt: Sie darf man niemals gemeinsam mit Säurereinigern verwenden, weil sonst das gefährliche Chlordioxid gebildet wird. Doch genau das machen die MMS-Fans, und zwar bewusst und ganz gezielt.

Das MMS-Wundermittel muss nämlich, so heißt es, zuerst mit Säure „aktiviert“ werden. Im Internet kann man daher gleich im Kombipack ein Fläschchen MMS und ein Fläschchen Salzsäure bestellen, zuhause mischt man beides dann zu einem giftigen Chlorgas-Cocktail zusammen, und der wird dann getrunken.

Wirken soll das gegen „Krebs, Malaria, Grippe, Schnupfen und fast jede Krankheit“. Hurra, das klingt großartig! Ganz besonders effektiv wirken MMS-Einläufe gegen sogenannte Seilwürmer. Das sind bedrohliche Parasiten, die bei manchen Leuten Angst und Schrecken verbreiten, allerdings den entscheidenden Vorteil haben, dass es sie gar nicht gibt. Umso besser lassen sie sich zu Marketingzwecken einsetzen – dass man nach einer MMS-Behandlung garantiert Seilwurm-frei ist, lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht nicht einmal bestreiten.

Aber das alles ist noch nicht genug: Ein pubertierendes Mädchen aus Mexiko, so wird berichtet, soll es durch MMS geschafft haben, endlich größere Brüste zu entwickeln. Ein Wunder! Das muss an MMS gelegen haben, welchen anderen Grund könnte es schließlich für Brustwachstum bei einem pubertierenden Mädchen geben?

Die Erkenntnis von Gut und Böse

Laut Jim Humble kann das Wundermittel zwischen guten und schlechten Mikroorganismen unterscheiden. Die guten werden in Ruhe gelassen, die schlechten werden getötet. Wie ein Chlordioxid-Molekül zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, erklärt er leider nicht. Tatsächlich bringt Chlordioxid Mikroorganismen um, in den USA wird es etwa verwendet, um Hühnerfleisch zu desinfizieren.

Dass es dann auch für den Menschen bedenklich ist, sollte eigentlich jedem klar sein. Die Einnahme von MMS führt oft zu Übelkeit, Erbrechen und Durchfall, manchmal sogar zu Nierenversagen oder Schädigungen im Darm. Aber keine Angst: Wie man nachlesen kann, ist das in Wahrheit ein gutes Zeichen. Der Körper versucht nur, giftige Stoffe loszuwerden. Man soll sogar die Dosis so weit erhöhen, dass es gerade noch auszuhalten ist.

Die Behörden warnen

Mit echter Medizin oder Wissenschaft hat das natürlich längst nichts mehr zu tun. Es gibt keine klinischen Studien, mit denen sich eine Wirkung von MMS belegen ließe, Giftnotrufzentralen haben Fälle von Schäden durch MMS dokumentiert, europäische Arzneimittelbehörden warnen vor dem Wundermittel. Doch immer noch spukt der Mythos von der wundersamen Heilung durch MMS im Internet herum und wird in Alternativ-Gesundheitsforen bis heute eifrig weiterverbreitet.

Der vielleicht abstoßendste Verwendungszweck für MMS verbreitete sich erst in den vergangenen Jahren: Es wurde behauptet, dass man Autismus mit MMS-Einläufen heilen kann. Tatsächlich flößten Eltern ihren wehrlosen Kindern giftiges Chlordioxid ein – natürlich ohne Erfolg, aber oft mit schweren Nebenwirkungen.

Erwachsene Menschen dürfen selbst entscheiden, womit sie sich vergiften wollen. Man sollte sie warnen, aber letzten Endes muss jeder selbst wissen, wie er mit seinem Körper umgeht. Aber autistischen Kleinkindern giftige Chlorbleiche einzuflößen ist moralisch gesehen eine völlig andere Angelegenheit. Hier ist der Spaß endgültig vorbei. Wer Kinder quält, hat bestraft zu werden – egal ob man sich den Unfug selbst ausgedacht hat, oder dabei den Empfehlungen eines selbsternannten Internet-Bischofs folgt. Hier sehen wir deutlich, dass Alternativmedizin nicht nur eine Sammlung freundlich gemeinter Scheintherapien ist, die allenfalls einen Placeboeffekt auslösen, sondern auch eine giftige Gefahr sein kann, die unschuldigen Menschen schweren Schaden zufügt. Weg damit!

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen schreibt er jeden zweiten Dienstag in der futurezone.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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