© Focke Strangmann, ap

Peter Glaser: Zukunftsreich

Schau: Kein Stau!

Im Stau sitzen ist öd. Der Mensch, soeben noch motorisiert des Weges, wird zum Fadfinder. 35 Stunden haben deutsche Autofahrer laut einer Studie letztes Jahr durchschnittlich im Stau gestanden, in Summe 830.000 Kilometer Stillstand. Längere Stauzeiten gab es nur in Belgien (58 Stunden) und den Niederlanden (45 Stunden). Für Österreich sind solche Zahlen nicht aufzutreiben, man will ja aus dem Ausland heranströmende Touristen nicht verschrecken. Die Schätzung des „Verkehrsclub Österreich“ (VCÖ) von 2005, es komme in der Republik zu „einer Milliarde Stau-Stunden“ ist vielleicht ein bißchen übertrieben. Was man aber auf jeden Fall festhalten kann: Stau ist unerwünscht.

Mit modernster Technik wird dagegen angearbeitet. Seit 2009 testet Google sein selbstfahrendes Auto. Auch Fahrzeugbauer wie Daimler sind auf den Zug aufgesprungen (zu dem die Autoflotte einmal werden soll). Inzwischen nimmt sogar Apple Fahrt auf und soll an einem Elektromobil arbeiten. Alle sehen in der Technik nicht zuletzt eine Möglichkeit, von unzulänglichen menschlichen Fahrern verursachte Staus zu verringern oder ganz vermeiden zu können. Allein der Aufbau der dafür nötigen Infrastruktur wird Milliarden kosten.

Es geht allerdings auch wesentlich billiger: Schon für vier Dollar ist ein FläschchenRoad Opener zu bekommen, ein orangefarbenes Öl, das laut Herstellerangabe Verkehrsstaus beseitigt. Es kommt, nicht ganz unpassend, aus der Stauhauptstadt Amerikas, aus Los Angeles. Reiche Leute lassen sich dort Autos maßschneidern, die es ihnen erlauben, auch im Stau zu arbeiten, zu relaxen oder sich fit zu halten. „Ich kann dem System ein Schnippchen schlagen“, sagt ein Grundstücksmakler über seinen umgebauten Bentley, „weil ich arbeiten kann, während alle anderen im Stau nur herumsitzen.“ Amerika ist ein zutiefst demokratisches Land, also gibt es für die Leute, die sich keinen Bentley leisten können, das „Road Opener“-Öl.

Ein Username, der überall im Netz zu lesen ist, wo es das Öl zu kaufen gibt, ist Jack the Shipper (Jack, der Versender). Jack bringt die Herkunft des Anti-Stau-Öls schon in der Betreffzeile auf den Punkt: „Snake Oil“ (gefolgt von der Höchstbewertung mit 5 Sternen). Es folgt ein Dialog, der sich liest wie aus einem Groschenroman und der Hinweise auf die Anwendung der Essenz gibt: „Wo soll ich es drauftun?“ -- „Auf den Motor. Auf die Räder. Und, zum Teufel, einen Tropfen auf deine Ohrläppchen.“

Das mit dem Roman ist nicht ganz unwahrscheinlich. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts tauchte eine neue Gattung von Magie-Büchern auf, zu denen man die in den Büchern beschriebenen Zaubermittel auch kaufen konnte - meist von denselben Leuten, von denen auch die Bücher stammten. Die mit Abstand fleißigste Autorin dieses Genres, Dorothy Spencer, verfaßte unter dem Pseudonym Anna Riva zahlreiche Bücher über Okkultismus und Hoodoo – eine magische Lehre, die sich in den amerikanischen Südstaaten unter der schwarzen Bevölkerung entwickelt hat.

Neben ihren Büchern verlegte sich Spencer auf die Produktion von magischen Ölen, Räucherwerk und Pülverchen. Als sie in den Neunzigerjahren an Alzheimer erkrankte, wurde ihre florierende Firma International Imports von dem Esoterik-Großhändler Indio Products in Los Angeles übernommen.

Snake Oil ist ein amerikanischer Klassiker. Der Begriff kommt von einem Mittel, das chinesische Arbeiter beim Bau der ersten transkontinentalen Eisenbahn in Amerika gegen Muskelschmerzen benutzten und das auch Schlangengift enthielt. Fahrende Händler, die Wundermittel anboten, kaperten die Bezeichnung, bis sie schließlich zum Inbegriff für Medizin wurde, die nicht wirkt. Heute steht der Begriff für Software, die kaum Funktionalität hat, aber von bombastischen Marketingversprechen umtönt ist.

„Es ist alles im Kopf“, sagt Marty Mayer, dem Indio Products gehört, über seinen flüssigen Hightech-Ersatz. Der 69-jährige läßt in seiner Fabrik, einem schlichten Betonkasten in einem Gewerbegebiet in L.A. magisches Öl in 500-Liter-Margen produzieren. Mayer glaubt nicht an Zauberei. Er ist der weltgrößte Grossist für esoterische Produkte und hat rund 7.000 Hilfsmittel von Seife über magischen Haushaltsreiniger bis hin zu Kerzen, Armaturenbrettheiligen, Düften und Ölen im Programm, die er in Magazinen in Kalifornien und Texas verkauft und nach Südamerika, Europa, Australien und Japan verschickt. Der jährliche Gewinn von Indio Products Inc. liegt zwischen 10 und 20 Millionen Dollar.

Sieht man sich um, was es neben dem Road Opener noch an interessanter Lebenshilfe in Ölform gibt, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Erwartbar sind Öle, die Erfolg, schnelles Geld oder Schutz vor Feinden verheissen. Schon interessanter klingen das „Komm-zu-mir“-Öl, das „Tu-was-ich-sage“-Öl oder das Control-Öl. Die Fülle ist schier unüberschaubar, allein 879 verschiedene Anna-Riva-Öle sind zu haben.

Mayer lebt 27 Kilometer von der Produktionsstätte entfernt in La Cañada, einer Vorstadt im Norden von Los Angeles. Mit dem Auto braucht man 30 Minuten dorthin – bei fließendem Verkehr. Er hört sich nicht so an, als ob er sein eigenes Anti-Stau-Öl benutzen würde. Es seien ihm schon Freundschaften in die Brüche gegangen, so Mayer, weil er „beim Essen etwas davon erwähnt“ habe, was er so macht. Inzwischen äußert er sich dazu nicht mehr spezifisch. Wenn ihn jemand fragt, sagt er „Ich habe eine Kerzenfabrik.“

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

mehr lesen
Peter Glaser

Kommentare