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Peter Glaser: Zukunftsreich

Sex. Und tolle Technik (die keiner will)

Im Juli 2011 kündigte Facebook als Reaktion auf das kurz zuvor eröffnete soziale Netzwerk Google+ eine erderschütternde Neuheit an. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um einen Videochat, im Grunde nicht mehr als eine Skype-Integration in den Facebook-Kontakten (Auf Google+ heißt das Bildtelefonieren „Hangout"). Ein Jahr später gibt es nun wieder einen neuen Aufmerksamkeitsanschub für`s Auge. „Schluss mit Langeweile auf Facebook", schreibt Spiegel Online süffisant. „Eine neue App will mit zufälligen Videochats dafür sorgen, dass das Netzwerk wieder Spaß macht." Airtime heißt die potentielle Spaßrettung, eine Art familienfreundliche Version von Chatroulette.

Die anarchistische Videokommunikationsform Chatroulette, bei der man mit zufällig ausgewählten Gesprächspartnern verbunden wird, war schon bald nach dem Start 2009 ein Superhit unter den neuen Netzvergnügungen. Die Wikipedia zitiert eine Untersuchung des Marktforschungsunternehmens RJMetrics vom März 2010, derzufolge „sind etwa 13 Prozent der Nutzer beim Start des Chats unbekleidet, entkleiden sich währenddessen oder vollführen sexuelle Handlungen". Die Sache ist kurz gesagt für Jugendliche nicht geeignet, aus diesem Grund bei Jugendlichen sehr beliebt und jedenfalls in der wildwachsenden Form nichts, das geeignet wäre, den Aktienkurs von Facebook wieder ein wenig ins Plus drehen zu lassen.

Die schattige Welt der unangemessenen Dinge
Die beiden Gründer des Airtime-Angebots haben bereits Netzgeschichte geschrieben. Sean Parker und Shawn Fanning gründeten 1999 Napster, die Mutter aller Musiktauschbörsen. Nun soll eine Anti-Porno-Brigade verhindern, dass Airtime in die schattige Welt der „unangemessenen" Sachverhalte abgleitet. Mehrere Dutzend Mitarbeiter werden die visuellen Erscheinungsformen der Chats überwachen, die damit natürlich etwas an Romantik verlieren. Aber vielleicht trifft ein Rendezvous im Scheinwerferkegel unter einer Überwachungskamera ja den durch Krisen ernüchterten Zeitgeist des frühen 21. Jahrhunderts. Eine Software zur Gesichtserkennng überprüft zusätzlich, ob auch tatsächlich Gesichter am Bildschirm zu sehen sind, andernfalls die firmeninterne Sittenpolizei angestupst wird.

Tarnen und Täuschen mit Technik
Die Bildtelefonie ist ein, wie ich finde beruhigendes Beispiel dafür, dass es Technologien gibt, die funktionieren, die aber keiner will, außer als Spielerei. 1936 hatte die Deutsche Reichspost den ersten "Fernsehsprechdienst" der Welt zwischen Berlin und Leipzig eingerichtet. Seither ist in jedem neuen Jahrzehnt der endgültige Durchbruch der Bildtelefonie verkündet worden. Kein Science Fiction-Film kann ohne wandgroße Visiofone auskommen. Mein erstes eigenes Bildtelefon habe ich Ende der achtziger Jahre nach ein paar Wochen wieder verschenkt. Um jemandem auf der anderen Seite etwas zu zeigen, brauchte man vier Hände: zwei, um das zu zeigende Objekt festzuhalten, eine, um zu verhindern, dass das  kleine Bildtelefon wegrutscht, und eine, um auf den Knopf für die Übertragung zu drücken. Einmal habe ich das Gerät verwendet, um in einer Redaktion - die mit einer entsprechenden Gegenstelle ausgestattet war - den Anschein zu erwecken, ich hätte einen Artikel schon fast fertig. Ich hielt einen Fächer aus (irgendwelchen) beschriebenen Seiten in die Kamera. Die Darstellungsqualität war so schlecht, dass man nicht erkennen konnte, was darauf geschrieben stand. Die meiste Zeit habe ich das Bildtelefon als Rasierspiegel verwendet. Der Klappfuß meines alten Tischspiegels fiel immer um, und die Auflösung der integrierten Videokamera reichte zur Ortung einer Bartspur gerade aus.

Ohne Bild läßt sich viel leichter lügen
An modernen Bildtelefonen vergewissert man sich am besten erst einmal seiner selbst, ehe man die Bildverbindung freischaltet. Um zu überprüfen, ob die Perücke verrutscht ist oder irgendwo im Hintergrund noch ein totes Pferd liegt, gibt es den sogenannten „Mirror"-Modus. Einer der Hauptgründe, weshalb sich die Bildtelefonie nie richtig durchsetzen wird: Um seinem Chef per Bildtelefon glaubhaft zu machen, dass einem unwohl ist und man nicht zur Arbeit kommen kann, muß man sich erst einmal grünlich schminken und dann auch noch schauspielern. Ohne Bild läßt sich viel leichter lügen. Aufräumen muß man, wenn denn die große Stunde des Bildtelefons vielleicht doch noch einmal kommt, nur noch ein einziges Mal im Leben. Das saubere Büro oder die glänzende Wohnung wird aufgenommen und fortan als virtuelle Kulisse in den Hintergrund der Bildverbindung eingeblendet.

Geschäftsfeld der Zukunft: die Einsamkeit
In Krisenzeiten, in denen Führungskräfte ungern in Flugzeuge steigen, weil es entführt werden oder sonstwie Schaden nehmen könnte, boomt das Bildtelefon-Business. Aber die Bildtelefonie hat ein ähnliches Problem wie CNN: ohne Krise kein Geschäft. Also hat man bei dem amerikanischen Beratungsunternehmen Accenture überlegt, welches große Problem der Menschheit man mit der wunderbaren Technologie, die keiner so recht will, überzeugend lösen kann. Es ist die Einsamkeit.

Mit dem System „Virtual Family Dinner", das jeweils aus einem großen Bildschirm, einer Webcam, Mikrofon und einer speziellen Software besteht, soll es bald keine traurige Oma mehr geben, die weit entfernt von Kindern und Enkeln Sonn- oder Feiertage zubringen muß. Die Gerätschaft soll es Familien wieder gestatten, gemeinsam am Tisch zu sitzen, ohne dass Entfernung eine Rolle spielt. Wenn sich jemand an einen so bestückten Tisch setzt, verschickt ein Sensor ein Signal an die Gegenstelle. Mutti in Wien weiß dann, dass die Oma in Fürstenfeld an ihrem Esstisch Platz genommen hat.

Eine Peter-Glaser-Ballung
Der Entwicklungsleiter bei Accenture heißt übrigens genauso wie ich – Peter Glaser. Wir kennen uns nicht und sind auch nicht miteinander verwandt. Ein Zufall. Und es gehört noch ein weiterer Zufall dazu. Vor noch nicht allzu langer Zeit klingelte mein Telefon immer wieder und ich bekam manische Anrufe einer Frau, die mir unbekannt war und die auch nicht sagen wollte, was sie wollte, sondern einfach nur anrief. Also meldete ich mich nicht mit Namen, sondern nur mit "Hallo", was ich sonst ein wenig barsch finde.

Am anderen Ende der Leitung sagte eine Männerstimme „Peter Glaser", und zwar nicht im Tonfall einer Frage, sondern als Feststellung. Dieser Peter Glaser war Polizeibeamter, ein höherer Dienstgrad. Ich sagte: „Ich kenne Sie aus der Zeitung" (Herr Glaser war mir in Erinnerung als Berater für die TV-Krimiserie „Abschnitt 40"). Es stellte sich heraus, dass ihn dieselbe Frau mit denselben Anrufen nervte. Wir fachsimpelten ein wenig, das Peterglasersein betreffend. Die Frau, die uns ständig anrief, sammelte offenbar Peter Glasers. Nachdem mich Peter Glaser angerufen hatte, rief die Frau nie wieder an.

Viel Glück noch, kleines Airtime.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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