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Peter Glaser: Zukunftsreich

Überlebenstweets und Liebesbecher

Es ist schon eine Weile her, als ich einmal einen Spielsalon betreten habe, in dem außer der Aufsicht nur ein einsamer Gamer vor einem der Automaten stand und sich daran abarbeitete. Ab und zu sagte der Automat „You`re alive!" Ich fand das bemerkenswert. Ein Mensch steht vor einer Maschine, die ihn immer wieder darauf aufmerksam macht, dass er am Leben ist. Viele erwarten von Maschinen ja eher das Gegenteil. Ablenkung von der distanzlosen Nähe zur Wirklichkeit. Die mit sanften Überblendungen vorbeifließenden Anmutungen der virtuellen Welt. Unterhaltsamen Eskapismus.

Aber es gibt bereits ein Update dieser Idee fürs Twitter-Zeitalter. Ob als Ego-Verstärker für Geeks, Marketingmenschen oder andere Leute, die sich gern auf kommunikationstechnischem Weg mit Informationskonfetti bestreuen, oder als Hilfsmittel ägyptischer Demonstranten – der Microblogging-Dienst hat bereits vielfach seine Stärken gezeigt. Nun kann man mit Hilfe von Twitter auch seine Verwandten und Freunde (echte, als auch Facebook-Freunde) jeweils aktuell darüber informieren, dass man am Leben ist.

Drei Japaner mit den Twitter-Namen Okaji, CigarCook und Bono – als Projektbastler nennen sie sich „Koress" – haben ein Gerät und einen Service entwickelt, über den die aktuelle Herzfrequenz eines Nutzers via Twitter ins Internet gesendet wird: die Akiduki Pulse Box. Durch den nützlichen Apparat sind Follower immer genau über diese zentrale Funktion des Gesundheitszustandes des Account-Inhabers informiert – Freunde (die hoffen, dass er beibehaltn wird), Feinde (die hoffen, dass er aufhört) und Familie (mal so, mal so), alle können sie den regulären Fortgang dieses wichtigen persönlichen Rhythmus nun mitverfolgen, ausgebreitet auf der digitalen Weltbühne. Ist doch toll, oder? In einigen Blogs hat man die Sache schon weitergesponnen, etwa dergestalt, dass beim Absinken des Pulses auf Null automatisch eine Todesanzeige abgesetzt wird.

Gadgets werden immer körpernäher. Am Institute für Interactive Design in Göteborg haben Entwickler ein fernknuddelbares Kopfkissen gebaut, das man umarmen kann. Die Bewegungsmuster werden dann in ein gleichartiges Kissen am anderen Ende der Leitung übertragen und dort durch elektrolumineszenten Draht in der Textilhülle in ein weich glühende Muster verwandelt. Jackie Lee und Hyemin Chung am Massachusetts Institut of Technology haben Trinkgläser für Verliebte („Lover`s Cups") gebaut, die über Süffelsensoren und LED-Illumination verfügen, die aufleuchtet, wenn der Schnuffelhase am anderen Ende der Netzverbindung gerade aus dem Becher trinkt.

Schön zu sehen, dass die Forschungen, die aus den gobkörnigen Cybersex-Verheißungen der neunziger Jahre hervorgegangen sind, inzwischen eher mit Feingefühl zu tun haben. Von allen Arten von Sex, die der Mensch bisher ausprobiert hat, war Cybersex ja mit Abstand die blödsinnigste – Leute in Hightech-Gummihosen und mit Bildschirmhelmen im Gesicht wedeln wie besoffen mit den Armen und küssen die Luft.

Mit der Pulse Box landet die Sinnlichkeit wieder im Ernst des Lebens: „Now I can die and post this info to Twitter", heißt es begeistert in dem Promotion-Video zu dem nützlichen Kästchen – „That`s what I call a revolution!" Und: „Benützen Sie die Akiduki Pulse Box beim Sport, bei der Liebe oder einfach wenn sie selber gern wissen möchten, ob sie noch am Leben sind!" Die Tweets enthalten eine kurze Auswertung des Herzpulses a la verlangsamter/normaler/beschleunigter Herzschlag. Nach Auskunft der Koress-Leute gibt es noch einen vierten Modus, zu dem aber keine Einzelheiten bekanntgegeben werden, ich vermute mal: „Herzschlag erloschen".

Das Puls-Postinggerät erinnert auch ein bißchen an den (seit Jahren) angekündigten Wii Vitality Sensor, eine Art digitaler Fingerhut, über den laut Nintendo „der Puls sowie eine Reihe weiterer Körpersignale" ausgelesen werden sollen, um dem User „Informationen über die körperliche Innenwelt" zu vermitteln. Angekündigt auf der Electronic Entertainment Expo 2009 und nicht wirklich vermißt 2010, ist das Kuriosum nach wie vor nicht zu haben. Stattdessen brachte die Spieleschmiede Ubisoft auf der ein eigenes sogenanntes Puls-Oxymeter namens Innergy auf den Markt.

Auch wenn man bei Koress überlegt, die Akiduki Pulse Box zu vermarkten und dazu auch Seminare für Hardware-Hersteller zu veranstalten, ist das ganze System erfreulicher Weise Open Source – Firmware, Hardware-Info etc. Der Haken an der Sache: Zum Betrieb der Pulse Box benötigt man Zugriff auf ein EKG-Gerät, Kostenpunkt zwischen 650 und 4.000 Euro. Aber für Zeitgenossen, die ganz vorne mit dabei sein wollen, wenn auch das Körperinnere dem Großen Netzdatenstrom zugeführt wird, sollte Geld nur eine untergeordnete Rolle spielen. Hauptsache du lebst. Und alles wissen es.

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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