Was der neue AMS-Algorithmus für Frauen wirklich bedeutet
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Das Arbeitsmarktservice ( AMS) setzt ab Mitte 2020 österreichweit ein Computerprogramm ein, um die Arbeitsmarktchancen von Arbeitslosen zu bewerten. Derzeit läuft dazu bereits seit knapp einem Jahr ein Testbetrieb. Generell gab man sich seitens des AMS sehr transparent über die Pläne. Die Synthesis Forschung GmbH, die mit der Entwicklung des Algorithmus beauftragt war, veröffentlichte Teile der Kriterien, die für die Bewertungen herangezogen werden sollen.
Doch diese führten zu einem großen Aufschrei unter Wissenschaftlern: Die Bewertung sei „ein Paradebeispiel für Diskriminierung“, sagt etwa der Forscher Florian Cech von der TU Wien der futurezone. Doch was steckt hinter dem Vorwurf?
Drei Gruppen mit unterschiedlichen Chancen
Konkret soll der AMS-Algorithmus die Arbeitsmarktchancen des Einzelnen berechnen und die Person daraufhin in eine von insgesamt drei Gruppen einteilen: Gute Chancen (A), mittlere Chancen (B) und schlechte Chancen (C). Dafür werden bestimmte Kriterien herangezogen. Punkteabzug gibt es dabei etwa für gesundheitliche Beeinträchtigungen.
Unterschiede gibt es aber zwischen Frau und Mann: Frauen werden vom Algorithmus generell – unabhängig von Job und Ausbildung - weniger Chancen am Arbeitsmarkt zugerechnet als Männern. Müssen sie zudem Kinder betreuen, wird das vom Computer ebenfalls negativ bewertet, während es bei Männern keinen Unterschied macht. Wer über 50 ist, bekommt zudem noch weitere Abzüge und die Arbeitsmarktchancen sinken.
Das Argument des Arbeitsmarktservice (AMS) für diese Einteilung lautet: Der Algorithmus spiegelt hier den Arbeitsmarkt wieder und es sei der Arbeitsmarkt selbst, der Frauen diskriminiere, nicht das Computerprogramm. Michael Wagner-Pinter von der Synthesis Forschung GmbH bezeichnet dies als „eine bittere Wahrheit für Frauen“.
Wie können Frauen profitieren?
Johannes Kopf, Vorstand des AMS, betont zuletzt in einem offenen Brief, dass Frauen von der Einführung des AMS-Algorithmus sogar profitieren würden. „Frauen werden überproportional mit mittleren Arbeitsmarktchancen ausgewiesen und sind bei der Gruppe mit niedrigen Arbeitsmarktchancen unterrepräsentiert“, heißt es in seinem Blogeintrag.
Um diese Logik nachvollziehen zu können, muss man wissen, dass die Gruppe mit den mittleren Arbeitsmarktchancen Anspruch auf Förderungen hat, während die Gruppe mit den höchsten Chancen von selbst wieder eine neue Arbeit finden wird. Die dritte Gruppe hingegen wird in eine externe Beratungsagentur ausgelagert, bei der Menschen freiwillig an Musik- und Bewegungsprogrammen teilnehmen können. Für diese Gruppe gibt es aber keine teuren Aus- oder Weiterbildungskurse.
Mehrheit der Frauen fällt in die mittlere Gruppe
Nun hat das AMS der futurezone erstmals Zahlen vorgelegt, wie viele Frauen und Männer in die einzelnen Gruppen fallen: 2018 waren neun Prozent der Frauen (Männer: 15%) im Segment mit den hohen Arbeitsmarktchancen, 62 Prozent der Frauen (Männer: 52%) im Segment mit mittleren Chancen und 29 Prozent der Frauen (Männer: 33%) im Segment mit den niedrigen Arbeitsmarktchancen. Diese Zahlen bestätigen die Aussage Kopfs, dass Frauen häufig in der mittleren Gruppe landen.
„Die Aussage gibt dennoch keine Auskunft darüber, wie sich die Kategorie Geschlecht de facto auswirkt. Zu vergleichen wären dazu nämlich Modellvarianten, die einmal mit und einmal ohne Relevant-Setzung des Geschlechts implementiert werden, und diese Varianten existieren nicht“, kritisiert Paola Lopez, Mathematikerin an der Universität Wien, gegenüber der futurezone. Ergo: Was man nach wie vor nicht weiß, ist, wie stark sich der Prozentsatz in den jeweiligen Gruppen ändern würde, wenn man das Geschlecht als Kriterium einfach gänzlich weglassen würde.
Festschreibung der Ungleichheit
Lopez fürchtet, dass es durch diesen Algorithmus zu einer Festschreibung und Verstärkung von Ungleichheiten und Benachteiligungen kommt, wie sie derzeit existieren. „Es ist durchaus sinnvoll, mittels Daten zu versuchen, ein möglichst akkurates Bild vom Arbeitsmarkt zu erhalten, um arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Beseitigung von Ungleichheiten zu entwerfen. Nur sollte man diese Prognosen als das handhaben, was sie auch leisten können: getroffen werden Aussagen über die Vergangenheit, da vergangene Daten des AMS verwendet werden“, sagt Lopez, die auch die erste wissenschaftliche Arbeit zum AMS-Algorithmus verfasst hat.
„Der Algorithmus berechnet also nicht die „Chancen“, die ein Individuum am Arbeitsmarkt hat, sondern die strukturelle Benachteiligung, die Menschen mit gleichen Dateneinträgen in der Vergangenheit widerfahren ist.“ Algorithmen sollten durchaus eingesetzt werden dürfen, aber nicht, um einzelne Personen zu bewerten und damit Gelder zu verteilen, so die Wissenschaftlerin.
„Dass ein technologisches Werkzeug dieser Art und dieses Ausmaßes in Österreich seitens der öffentlichen Hand ihre erste groß angelegte, medienwirksame Anwendung gerade im Umgang mit Arbeitslosen findet, die sich an einer strukturell vulnerablen gesellschaftlichen Position befinden, ist besorgniserregend“, fügt die Forscherin hinzu.
Traditionelle Rollenbilder statt neuer Modelle
Auch Manuela Vollmann und Judith Pühringer vom Netzwerk „arbeit plus“ stehen den AMS-Plänen, die mittlerweile vom Verwaltungsrat abgesegnet worden sind, skeptisch gegenüber. „Ein System, das traditionelle Rollenbilder in einem wertekonservativen Land wie Österreich fortschreibt, anstatt ihnen zu begegnen, sehe ich als Backlash“, so Vollmann. Anstatt Frauen per Algorithmus schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt zu bescheinigen als Männern, sollte es eine gendergerechte Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit geben sowie neue Arbeitsmodelle, die es Frauen erlauben, sich chancengleich zu positionieren.
Mit dem AMS-Algorithmus würden keine neuen Chancen für Frauen geschaffen und die Arbeitsmarktpolitik werde damit nicht in die Zukunft gerichtet, fügt Pühringer hinzu. „Es wird nur der Status Quo verfestigt.“ Fest steht damit: Nicht der AMS-Algorithmus diskriminiert Frauen, sondern der Arbeitsmarkt sowie diejenigen, die diese Muster für Zukunftsmodelle heranziehen. AMS-Vorstand Kopf betont, dass es für Frauen auch ein höheres Förderbudget gebe und man damit der Diskriminierung entgegenwirken möchte.
Höheres Budget für Frauen bis 2020
Der Verwaltungsrat des AMS hat als Ziel für das Jahr 2020 beschlossen, dass der Anteil der Förderausgaben für Frauen im Jahr 2020 um 3,5 Prozent über dem Anteil der Frauen an den Arbeitslosen liegen soll. „Dass für Frauen daher auch weiterhin von höheren Fördergeldern profitieren, ist daher bereits beschlossen“, heißt es seitens des AMS. Doch die langfristigen Budgetpläne fallen in den Aufgabenbereich des Sozialministeriums – und damit gibt es keine Garantie, dass Frauen auch in fernerer Zukunft von höheren Fördergeldern profitieren.
„Wir würden uns wünschen, dass uns als Kritikerinnen nicht pauschal Technik-Angst vorgeworfen wird. Wir sind nicht gegen den Einsatz von neuen Technologien, dort wo sie Sinn machen und forcieren auch innerhalb unseres Netzwerks das Thema digitale Inklusion“, sagt Pühringer von „arbeit plus“. „Technik und datengestützte Algorithmen sind aber nicht per se „besser“ oder „effizienter“ als Menschen, sondern auch von Menschen gestaltet.“
Hier geht es zu der futurezone-Serie:
Teil 1: Der AMS-Algorithmus ist ein „Paradebeispiel für Diskriminierung“
Teil 2: Warum Menschen Entscheidungen von Computerprogrammen nur selten widersprechen
Teil 3: Wie ihr euch gegen den AMS-Algorithmus wehren könnt
Teil 4: Wo Algorithmen bereits versagt haben
Interview: AMS-Chef: "Mitarbeiter schätzen Jobchancen pessimistischer ein als der Algorithmus"
Umstrittener AMS-Algorithmus teilt Arbeitslose ab sofort in Kategorien ein
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