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Huawei P20 Pro im Test: Mit “Notch” an Samsung vorbei

Huaweis Smartphones haben in den vergangenen Jahren immer einen etwas fahlen Beigeschmack hinterlassen. Obwohl auf dem Papier alles passte, schaffte es die Konkurrenz stets, mit neuen Features mehr Begehrlichkeiten zu wecken. Doch dieses Jahr sind die Rollen vertauscht: Während Samsung und Co. auf Bewährtes setzen und kaum Risiken eingehen, legt Huawei mit dem P20 Pro vor. Mit einem neuartigen Triple-Kamera-Setup ließ man die Konkurrenz im Foto-Benchmark DxOMark nicht einfach hinter sich, man deklassierte sie regelrecht. 

Doch nicht nur bei der Qualität, auch bei den Features verspricht man viel: 40 Megapixel, Fünffach-Zoom, ein besonders lichtempfindlicher und großer Sensor sowie ein KI-Chip, der automatisch die besten Einstellungen wählt. Größenwahn oder die neue Referenz bei Smartphone-Kameras? Die futurezone hat das P20 Pro unter die Lupe genommen.

Danke, Apple

2018 wird das Jahr des “Notch”. Die schmale Aussparung am oberen Bildschirmrand hielt mit Apples iPhone X Einzug in den Smartphone-Markt und wird seitdem kontrovers diskutiert. Für Apple war es der optimale Kompromiss, um den Rahmen des Smartphones möglichst schmal zu halten. Doch das ungewöhnliche Design-Element gefiel nicht allen. Umso stärker verwundert es, dass viele große Hersteller auf den “Notch”-Zug aufspringen. Selbst Google hat dem Druck der Hersteller nachgegeben und wird in Android P Unterstützung für den ungeliebten schwarzen Balken hinzufügen.

Auch Huawei hat sich dem “Notch” angenommen und gleich alle drei Modelle der P20-Reihe damit ausgestattet. Das P20 Pro weist die schmalste Variante auf, die Aussparung ist lediglich 18 Millimeter breit und fünf Millimeter tief. Damit ist die verdeckte Bildschirmfläche deutlich kleiner als beim iPhone X. Der Verlust fällt beim P20 Pro ohnedies gering aus: Wenn man die abgerundeten Ecken am “Notch” und Display vernachlässigt, lassen sich rund 99 Prozent der Display-Fläche nutzen.

Optisch fällt der kleine Balken kaum auf, bei dunklen Hintergründen übersieht man diesen sogar hin und wieder. Das sorgt für kleinere Probleme, beispielsweise wenn man die Benachrichtigungszentrale öffnen möchte und versehentlich über die Frontkamera wischt. Obwohl der schwarze Balken kleiner ausfällt als beim iPhone X, nimmt der Bildschirm des Apple-Smartphones dennoch geringfügig mehr Platz an der Front ein. Doch warum kommt Apple dem Traum vom rahmenlosen Smartphone etwas näher? Das Problem findet sich beim P20 Pro an der unteren Bildschirmkante: Ein knapp ein Zentimeter langes “Kinn”, weil der Fingerabdrucksensor vorne landen musste.

Nicht ohne Fingerabdruck

Eine eher zweifelhafte Entscheidung. Einerseits rückt der Daumen so weiter vom ohnedies riesigen Bildschirm weg, andererseits lässt sich der Fingerabdrucksensor an dieser Stelle schlecht erreichen. So muss das 180 Gramm schwere Smartphone balanciert werden, um das Smartphone einhändig zu entsperren. Auf der Rückseite hätte der Fingerabdrucksensor mehr Sinn gemacht, da dieser sich einfach mit dem Zeigefinger beim Herausziehen aus der Hosentasche erreichen lässt. Huawei verspricht aber ohnedies, dass man den Fingerabdruck zum Entsperren kaum benötigt.

Stattdessen soll dank der relativ hochauflösenden Frontkamera (24 Megapixel) Gesichtserkennung das Gerät zuverlässig entsperren, wenn der Benutzer erkannt wird. Wie Apples Face ID erwies sich das Verfahren jedoch als unzuverlässig. Der Nutzer wurde meist nur erkannt, wenn er das Smartphone in einem bestimmten Abstand zum Gesicht hielt. Zudem erfordert die offenbar vorwiegend optische Gesichtserkennung gute Lichtbedingungen - bei Nacht wurde das Entsperren meist verweigert. Wie bei Samsung und OnePlus gelangt der Nutzer bei einer erfolgreichen Gesichtserkennung sofort auf den Homescreen. Das ist jedoch ärgerlich, wenn man lediglich mit den Sperrbildschirm-Widgets, beispielsweise der aktuellen Spotify-Wiedergabe, interagieren möchte. Hier ist Apples Modell deutlich besser: Das Gerät wird zwar entsperrt, der Nutzer muss den Sperrbildschirm aber selbst wegwischen.

Beim Design hat sich Huawei spürbar weiterentwickelt. Nach dem Aluminium-geformten runden Gehäuse des P10 setzt man nun verstärkt auf Glas an Front und Rückseite. Der Rahmen besteht weiterhin aus Aluminium. Ob hier auch kratz- und stoßfestes Gorilla Glass zum Einsatz kommt, ist nicht bekannt. Im Test ließen sich nach der Lagerung in Hosen- und Jackentasche aber keine Kratzer feststellen. Die Rückseite ist extrem glatt und sorgte dafür, dass das Smartphone bereits bei leichten Unebenheiten zu rutschen beginnt. Auch Fettschmierer sammeln sich rasch auf der glatten Oberfläche. Wer einen Spiegel benötigt, muss immerhin nicht lange suchen: Selbst im schwarzen Modell kann man sich problemlos selbst betrachten.

Nur mit zwei Händen bedienbar

Die Verarbeitung des P20 Pro ist hervorragend, allerdings waren beim Testgerät recht breite Spaltmaße zwischen Gehäuse-Rahmen und der Rückseite aus Glas feststellbar. Dort sammelt sich rasch Staub, der nur mühsam wieder entfernt werden kann. Auch um die wenige Millimeter hervorstehende Triple-Kamera sammelt sich rasch Staub. Wie bei vielen anderen Smartphones, kommt man kaum mehr ohne Putztuch aus.

Um das Smartphone angenehm bedienen zu können, muss man es mit zwei Händen halten. Eine einhändige Bedienung ist nur mit Software-Hilfen, beispielsweise einer verkleinerten Tastatur, möglich. Hier erweist sich der schwebende Soft Key als nützlich, der bereits im P10 Einzug hielt. Dieser ersetzt die üblichen Soft Keys und schafft mehr Platz am Bildschirm. Einfaches Tippen löst “Zurück” aus, langes Drücken ersetzt die “Home”-Taste und langes Ziehen öffnet den Task-Manager. Durch einfaches Wischen auf der Soft-Key-Leiste kann zudem die App verkleinert werden, sodass man auch mit dem Daumen in die gegenüberliegende Ecke kommt. Weitere im System integrierte Bedienhilfen gibt es jedoch nicht.

Da Huawei dieses Mal so großen Wert auf seine Kamera legt, ist diese auch nicht mehr mittig, sondern im linken oberen Eck zu finden. Die Power-Taste wurde mit einem roten Punkt versehen, damit sich diese, wie bei einer Kompaktkamera, als Auslöser verwenden lässt. Die Lautstärke-Wippe kann mit der Zoom-Funktion belegt werden. Die Tasten sind hochwertig verarbeitet, lassen sich rasch erreichen und haben einen angenehmen Druckpunkt. Andere Elemente, beispielsweise der SIM-Karten-Schacht, sind gut versteckt. Dieser lässt sich weiterhin nur mit einem entsprechenden Werkzeug öffnen und bietet bis zu zwei Nano-SIM-Karten Platz. MicroSD-Karten werden nicht mehr unterstützt. Auch einen Lautsprecheranschluss sucht man vergeblich. Huawei liefert zwar einen USB-C-Adapter für 3,5-mm-Klinkenkabel mit, wie bei anderen Geräten fällt dieser “Wurmfortsatz” jedoch unangenehm und hässlich aus. Im Lieferumfang befinden sich solide USB-C-Kopfhörer, längerfristig führt aber wohl kein Weg an einem Bluetooth-Modell vorbei.

Display: Knapp hinter S9

Beim Bildschirm hat die P-Serie ebenfalls einen großen Sprung nach vorne gemacht. Das P20 Pro verfügt über ein AMOLED-Panel, das mit 2244 mal 1080 Pixeln auflöst. Von wem Huawei das Panel bezieht, ist unklar. Doch bereits bei anderen Modellen, beispielsweise beim von Huawei gebauten Nexus 6P, arbeitete man mit LG Display zusammen. Beim verbauten Panel dürfte es sich um ein herkömmliches AMOLED-Panel und nicht um LGs flexible Display-Technologie P-OLED handeln, die zuletzt durch starke Qualitätsschwankungen und Farbverfälschungen in die Schlagzeilen geriet. Diese kommt aber kurioserweise beim Luxus-Modell Mate RS zum Einsatz, das im direkten Vergleich mit dem halb so teuren P20 Pro schlechter abschneidet.

Die Farbdarstellung beim P20 Pro ist hervorragend und kann über die Einstellungen auch den eigenen Bedürfnissen angepasst werden. Neben einzelnen Farbprofilen kann auch die Farbtemperatur ausgewählt werden. Huawei behauptet, der Bildschirm würde 101 Prozent des sRGB-Farbraums abdecken. Damit würde man theoretisch nur knapp unter dem vom S9 erreichten Wert von 103 Prozent liegen, der von DisplayMate ermittelt wurde. Auch die Helligkeit ist solide und mehr als ausreichend für den Einsatz im Freien.

Trotz seiner farblichen Brillanz erreicht der Bildschirm nicht ganz das Niveau des Samsung Galaxy S9, das vor allem mit einer höheren Schärfe und Helligkeit punkten kann. Mit einer Pixeldichte von knapp 408 ppi liegt das P20 Pro am unteren Ende bei Modellen dieser Preisklasse. Durch die ungewöhnliche Auflösung (2244 mal 1080 Pixel) und die große Bildschirmdiagonale (6,1 Zoll) werden viele Apps ungewohnt “aufgeblasen” dargestellt. Dieser Effekt lässt sich durch Verkleinern der Schriftgröße in den Systemeinstellungen reduzieren, dennoch sehen Apps auf dem P20 Pro ungewohnt aus.

Die volle Länge wird nur von wenigen Apps ausgereizt, da diese meist auf 16:9 statt 18,7:9 ausgelegt sind. Der erzwungene Vollbild-Modus verrichtet hier aber bei den meisten Apps gute Arbeit, einige stürzen dabei aber ab. Zudem können Videos nicht gestreckt oder ein Bildausschnitt daraus herangezoomt werden - weder in der offiziellen Videoplayer- noch in anderen Video-Apps, beispielsweise YouTube oder Netflix. So muss man bei der Videowiedergabe stets mit zwei schwarzen Balken Vorlieb nehmen.

Hauseigener Chip

Bei der Hardware setzt Huawei auf Bewährtes: Wie im Mate 10 (Pro) setzt man auf den Quadcore-SoC Kirin 970 aus der hauseigenen Chip-Schmiede HiSilicon. Dieser schlägt sich im Vergleich mit dem Qualcomm Snapdragon 845 und Samsungs Exynos 9810 sehr gut, lediglich die etwas abgespeckte GPU verhindert ein Duell auf Augenhöhe. Während man in CPU-lastigen Benchmarks ähnlich gut und teilweise sogar besser abschneidet, machen sich die lediglich zwölf Kerne der Mali-G72-GPU bemerkbar. Zum Vergleich: Samsung setzt ebenfalls auf die Mali-G72, verbaut aber 18 Kerne. Dadurch gewinnt man beispielsweise in 3DMark knapp zehn Prozent an Leistung - für den Alltag kaum relevant, für die Zukunft sind die Leistungsreserven aber durchaus von Vorteil. Aktuelle Titel wie PUBG Mobile lassen sich aber auch in dieser Konfiguration ruckelfrei mit hohen Details spielen, Leistungseinbrüche ließen sich nicht beobachten.

3DMark (Sling Shot Extreme, v2.0 - OpenGL/Vulkan): 2976/3267 Punkte
PCMark (v2.0): 7129 Punkte
AnTuTu (v7.0.7): 206.022 Punkte
AndroBench 5 (sequenzielles Lesen/Schreiben): 840,67/195,16 MB/s
BaseMark ES 3.1 (v1.0.7): 528 Punkte
BaseMark OS II: 3270 Punkte
GeekBench (v4.2, Single-Core/Multi-Core): 1927/6728 Punkte

In CPU-lastigen Benchmarks lässt der Kirin 970, trotz CPU-Kernen der vergangenen Generation (der Cortex-A73 und A-53 wurden mittlerweile vom A75 und A55 abgelöst), seine Muskeln spielen. Insbesondere im PCMark, bei dem die Alltagsnutzung simuliert wird, sowie in AnTuTu wurde die Leistung im Vergleich zum Mate 10 Pro um knapp 20 Prozent gesteigert. Auch beim internen Speicher setzt Huawei offenbar auf flotte UFS-2.1-Chips, da in Benchmarks regelmäßig Lesegeschwindigkeiten über 800 Megabyte pro Sekunde erreicht wurden. Die insgesamt 128 Gigabyte an Speicher können nicht erweitert werden, einen Einschub für microSD-Karten gibt es nicht. Vom System werden knapp 8,3 Gigabyte belegt, der Rest ist frei nutzbar. Auf unnötige Bloatware wird verzichtet, lediglich der vom KI-Chip beschleunigte Microsoft Translator sowie der GoPro-Video-Editor Quik sind vorinstalliert. Beide Apps lassen sich nicht vollständig entfernen.

Riesenakku hält zwei Tage

Abgesehen davon hat Huawei die übliche Auswahl seiner System-Apps installiert, darunter auch die hauseigene “Health”-App mit Schrittzähler, einen “Telefonmanager”, der nach selten benötigten Apps und Akkufressern sucht, sowie den hauseigenen App Store “AppGallery”. Der verbaute IR-Blaster lässt sich über die “Smart Controller”-App nutzen, mit der man das Smartphone als Fernbedienung für Fernseher, Stereoanlage oder andere Geräte nutzen kann. Wie beim Mate 10 Pro hat man einen recht großen Akku - 4000 mAh - auf kompaktem Volumen verbaut. Davon profitiert die Laufzeit, die üblicherweise bei 1,5 Tagen liegt. Bei genügsamer Nutzung kann sie auf zwei Tage verlängert werden.

Wie beim Mate 10 Pro ist das Smartphone wasser- und staubdicht (IP67) ausgeführt. Zudem ist das hauseigene Schnellladegerät (4,5 V/5 A) mit an Bord, das den Akku binnen einer halben Stunde auf knapp zwei Drittel lädt. Etwas enttäuschend, zumindest im direkten Vergleich mit dem Samsung Galaxy S9, fällt die Leistung der Lautsprecher aus. Huaweis Lautsprecher sind selbst auf der höchsten Stufe gerade einmal für die Videowiedergabe im eigenen Zuhause ausreichend. In lauteren Umgebungen muss man zwangsläufig auf Kopfhörer oder externe Lautsprecher zurückgreifen. Daran kann auch die Dolby-Atmos-Unterstützung nichts ändern, die aber zumindest für ordentlichen Raumklang sorgt.

Wie die drei Kameras zusammenarbeiten

Der Fokus (kein beabsichtigtes Wortspiel) liegt beim P20 Pro ohne Zweifel auf der Kamera. Huawei mag behaupten, dass es sich um das erste Smartphone mit Triple-Kamera handelt, doch dieser Titel geht - zumindest auf dem Papier - an den chinesischen Hersteller Vivo. Mit dem Xplay 7 wurde diese Technologie bereits im Vorjahr demonstriert, bislang aber noch nicht veröffentlicht. Und auch der 40-Megapixel-Sensor mag beeindruckend sein, Nokia ist dieses Kunststück bei einem Smartphone aber bereits 2013 mit dem eindrucksvollen Lumia 1020 gelungen. Dennoch ist die ungewöhnliche Huawei-Kamera ein eindrucksvoller Schritt nach vorne.

Wie genau die drei unterschiedlich ausgestatteten Kameras zusammenarbeiten, ist unklar. Anhand der technischen Details und der Funktionsweise der Kamera-App lassen sich aber ein paar Vermutungen anstellen. So ist zum Beispiel bereits eines klar: Mit 40 Megapixel wird man nur im Ausnahmefall fotografieren. Im Automatik-Modus nimmt die Kamera stets mit zehn Megapixel auf, bei höheren Auflösungen werden der Nacht-Modus und die Zoom-Funktion deaktiviert. Dass die geringere Auflösung bevorzugt wird, ist auf das sogenannte Pixel-Binning zurückzuführen. Dabei werden mehrere Sensor-Pixel zu einem Pixel zusammengefasst, um das Signal-Rausch-Verhältnis zu verbessern. Ein positiver Nebeneffekt für Aufnahmen bei schlechten Lichtverhältnissen, im Alltagsgebrauch gehen im Vergleich zu einer echten 40-Megapixel-Aufnahme aber Details verloren.

Weniger Pixel, aber schärfer

Im Test erwies sich die geringere Auflösung als kein Nachteil, im Vergleich zu den Top-Modellen von Samsung und Apple verliert man lediglich zwei Megapixel - für den Einsatz auf Social Media und Co. mehr als ausreichend. Einige rasche Schnappschüsse mit dem Samsung Galaxy S9+ zeigen sogar, dass die P20-Pro-Aufnahmen trotz der geringeren Auflösung einen höheren Detailgrad bieten können. Das ist vor allem der Zoom-Funktion zu verdanken, die verlustfrei Aufnahmen mit dreifacher oder fünffacher Vergrößerung machen kann. Während man beim dreifachen Zoom noch auf einen optischen Bildstabilisator zurückgreifen kann - Huawei hat diesen nur bei der 8-Megapixel-Kamera mit größerer Brennweite (80mm) verbaut - muss man bei Fünffachzoom eine ruhige Hand beweisen.

Huawei greift hier auf die für Machine-Learning-Anwendungen entwickelte NPU (Neural Processing Unit) zurück. Diese soll “KI-Bildstabilisierung”, von Huawei als AIS (Artificial Intelligence Stabilization) bezeichnet, ermöglichen. Im Gegensatz zu bisherigen digitalen Bildstabilisatoren, die - relativ ineffizient auf Kosten der Bildqualität - den Bildausschnitt mittig stabilisieren, soll Huaweis Technologie mit optischen Bildstabilisatoren vergleichbare Ergebnisse erreichen. Dazu wird die Objekterkennung genutzt, die je nach gewählter Szene (bei Porträt beispielsweise eine Person) das Motiv im Bildausschnitt hält und die Aufnahme stabil bleibt. Theoretisch soll die Kamera-App so auch erkennen, wenn bei einem Gruppenbild einzelne Personen abgeschnitten dargestellt werden. 

Zoom nur bei Tag praktisch

In der Praxis glichen die Aufnahmen mit Fünffachzoom einer Lotterie. Insbesondere bei schlechten Lichtbedingungen wurde das starke Rauschen der Aufnahmen durch Glätten beseitigt. So sahen einige Aufnahmen in der Dämmerung und bei Nacht aus wie Ölgemälde. Bei Tag und Kunstlicht ließen sich aber durchaus gute Ergebnisse mit hohem Detailgrad erzielen. So konnten gute Porträtaufnahmen von Personen aus mehreren Metern Distanz oder Detailaufnahmen von Gebäuden angefertigt werden. Hier war die Qualität ähnlich gut wie ohne Zoom.

Von der ungewöhnlichen Bildstabilisierung per KI-Chip profitiert vor allem der Nacht-Modus, bei dem mehrere Sekunden lang Aufnahmen mit unterschiedlicher Belichtungsdauer gemacht und anschließend miteinander kombiniert werden. Bislang war für diesen Modus ein Stativ erforderlich, andernfalls fielen die Aufnahmen verwackelt aus. Im Test zeigten sich aber auch bei einhändiger Bedienung - ich habe beim Aufenthalt in Paris das P20 Pro mit einer Hand aus dem Fenster gehalten, um die Stadt bei Nacht zu fotografieren - sehr gute Ergebnisse. Die Aufnahmen sind zwar meist nicht sehr scharf, punkten aber mit einem hervorragenden Kontrast. 

Auch das Zusammenfügen der Einzelbilder bei Panoramaaufnahmen funktioniert besser und schneller als bei anderen Smartphones. Die KI-Szenenauswahl lag im Test aber hin und wieder auch kräftig daneben. Beim Versuch, einen durch den Garten laufenden Hund zu fotografieren, wollte der Automatik-Modus stets die Szene “Grün” wählen, um den Rasen besonders stark hervorzuheben. 

Keine Nachteule

Eine Behauptung von Huawei lässt sich aber relativ einfach widerlegen: Aufnahmen mit ISO 102.400 können definitiv nicht gemacht werden. Weder im Automatik- noch im manuellen Modus kann die Lichtempfindlichkeit nicht über ISO 3200 gewählt werden. Eine derart hohe Lichtempfindlichkeit, bei der selbst Profi-DSLRs ins Schwitzen geraten, ist bei einem derart kleinen Kamerasensor (1/1,78 Zoll) fast unmöglich zu bewerkstelligen. 

Huawei dürfte hier wohl eher die Behauptung aufstellen, das P20 Pro könne Fotos in Situationen aufnehmen, bei denen üblicherweise eine Lichtempfindlichkeit von ISO 102.400 erforderlich wäre. Das mag zum Teil der Wahrheit entsprechen - eine lange Belichtungsdauer und Stativ vorausgesetzt - doch letztendlich ist es eine Lüge. Das ist so ähnlich, als würde VW behaupten, ein Polo könnte schneller als ein Bugatti Veyron fahren - wenn er sich im freien Fall ohne Luftwiderstand befindet.

Zu S9 und iPhone X aufgeschlossen

Der Selfie-Modus ist sehr gut gelungen, die 24-Megapixel-Kamera macht auch bei schlechten Lichtbedingungen hervorragende Aufnahmen. Bei schlechten Lichtverhältnissen ist der Porträt-Modus, der ein künstliches Bokeh erzeugt, aber meist überfordert und sorgt auch am Kopfrand für künstliche Unschärfe. Wie beim iPhone X kann man verschiedene Beleuchtungsvarianten auswählen, die nachträglich per Software hinzugefügt werden. Die Frontkamera hat hier das gleiche Problem wie der Porträt-Modus: Beim iPhone X hilft ein Infrarot-Tiefensensor dabei, das Gesicht zuverlässig zu erkennen, beim P20 Pro verlässt man sich rein auf die Software. Die Ergebnisse sind ordentlich, aber deutlich schlechter als bei Apples High-End-Modell.

Videos können mit 4K-Auflösung aufgenommen werden, es sind aber auch Full-HD-Videos mit 60 Bildern pro Sekunde möglich. Der KI-Bildstabilisator verrichtet auch hier seine Arbeit solide, ein optischer Bildstabilisator wäre aber hilfreicher gewesen. Wer häufig Videos mit dem Smartphone machen möchte, wird hier wohl um einen Gimbal, wie der DJI Osmo Mobile 2, nicht herumkommen. Wie beim Samsung Galaxy S9 können Zeitlupenvideos mit 960 Bildern pro Sekunde gemacht werden. Auch hier funktioniert leider die Bewegungserkennung nicht zuverlässig, sodass die nur den Bruchteil einer Sekunde langen Videos erst aufgenommen werden, wenn schon alles vorbei ist.

Weniger Huawei, mehr Google

Huawei setzt weiterhin auf seine hauseigene Android-Oberfläche EMUI (Emotion UI), die, wie das installierte Betriebssystem Android, mittlerweile bei Version 8.1 angelangt ist. Im Vergleich zum Vorgänger hat sich wenig verändert, die meisten Anpassungen haben mit dem “Notch” zu tun. So wird beim langen Halten von App-Icons im rechten oberen Eck der Deinstallieren-Button angezeigt. Auch die Darstellung der Benachrichtigungs-Icons wurde an den Einschnitt im Display angepasst. Die Oberfläche ist schlicht und verzichtet auf aufwendige Animationen. Einzelne Funktionen, beispielsweise ein Dark Mode für die Systemeinstellungen, versucht die Vorzüge des AMOLED-Panels auszureizen und sorgen für einen etwas geringeren Stromverbrauch. 

Huawei setzt, im Gegensatz zur Konkurrenz, auch verstärkt auf Google-Apps. So verzichtet man auf eine eigene SMS-App und Browser und liefert stattdessen von Haus aus Android Messages und Chrome mit. Android Messages soll auch vom “KI-Chip” (NPU - Neural Processing Unit) des Kirin 970 profitieren, das lokal Vorschläge für Antworten auf Nachrichten liefern soll. Dieses Feature scheint vorerst auf Englisch beschränkt zu sein, bei deutschsprachigen Nachrichten wurden keine Vorschläge eingeblendet. Es ist auch möglich, “App-Twins” zu erstellen. Dabei können Messenger-Apps wie WhatsApp, Snapchat oder Facebook Messenger doppelt installiert und so zwei Konten auf einem Gerät verwaltet werden. Diese Funktion ist insbesondere für Dual-SIM-Nutzer praktisch.

“Notch” kann ausgeblendet werden

EMUI bietet einen Blaulichtfilter. Einen langsamen Übergang zum Sonnenuntergang, wie es Apps wie “Twilight” bieten, gibt es leider nicht. Kurios ist zudem, dass Huawei das Ausblenden des “Notch” ermöglicht. In den Einstellungen hat man den “Notch” als “Einschnitt” bezeichnet. Wird die Funktion aktiviert, blendet das Betriebssystem einfach einen schwarzen Balken ein. Eine simple Lösung, die dem Pro-Modell vorbehalten scheint. Auf dem P20 Lite gibt es diese Option nicht. 

Wie beim Mate 10 Pro kann der Desktop-Modus genutzt werden. Dazu benötigt man lediglich einen USB-C-auf-HDMI-Adapter, mit dem das Smartphone an einen Desktop-Monitor angeschlossen wird. Dort lassen sich zahlreiche Apps auf einer Linux-ähnlichen Desktop-Oberfläche nutzen. Vorteile zieht man, ähnlich wie bei Samsungs DeX, kaum daraus, dennoch ist es nach wie vor ein eindrucksvoller Beweis der Rechenleistung moderner Smartphones.

Fazit

Huaweis P20 Pro mag die Konkurrenz nur in einigen wenigen Punkten übertrumpfen, diese sind aber wesentlich. Insbesondere die lange Laufzeit und die intelligente Kamera konnten im Test überzeugen. Obwohl die Kamera die absurd hohen Versprechen von Huawei nicht vollständig einlösen kann, sind die Ergebnisse dennoch beeindruckend. Vor allem bei Tageslicht verrichtet die KI-gestützte Kamera hervorragende Arbeit und sorgt für vorzeigbare Aufnahmen. Und auch bei Nacht waren die Aufnahmen eindrucksvoll - solange man nicht näher hinsah. Lediglich der fehlende optische Bildstabilisator trübt den positiven Gesamteindruck etwas.

Obwohl das Smartphone in der Android-Welt eine Referenz darstellen mag, ist es dennoch hinter das “Notch”-Vorbild iPhone X zu stellen, für das allerdings mindestens 300 Euro mehr fällig werden. Wer nicht so viel investieren möchte, sollte einen Blick auf die mittlerweile unter 500 Euro erhältlichen OnePlus 5T und Xiaomi Mi Mix 2 werfen, deren Nachfolger aber bald erhältlich sein werden. Auch das Samsung Galaxy S8, das sich aus technischer Perspektive nur gering von seinem Nachfolger unterscheidet, ist mittlerweile für 500 bis 600 Euro erhältlich und nach wie vor empfehlenswert.

Modell:
Huawei P20 Pro
Display:
6,1 Zoll AMOLED-Bildschirm - 2244 x 1080 Pixel (18,7:9, 408 ppi)
Prozessor:
Octacore-SoC (HiSilicon Kirin 970)
RAM:
6 Gigabyte
Speicher:
128 GB intern
Betriebssystem:
Android 8.1 (EMUI 8.1)
Anschlüsse/Extras:
USB Typ-C 1.0 (USB 3.1), Bluetooth 4.2, WLAN (a/b/g/n/ac)
Akku:
4000 mAh
Kamera:
Triple-Kamera: 40 Megapixel (f/1.8, 1/1.7-Zoll-RGB-Sensor, 27 mm), 20 Megapixel (f/1.6, 1/2.78-Zoll-Monochrom-Sensor, 27 mm), 8 Megapixel (f/2.4, 1/4.4-Zoll-Sensor, optischer Bildstabilisator, 80 mm), Dual-LED-Blitz, Phasendetektions- und Laser-Autofokus
Frontkamera: 24 Megapixel (f/2.0)
Videos:
Aufnahme in 2160p bei 30 fps möglich; Slow-Motion-Aufnahmen in 720p mit 960 fps möglich 
Maße:
155 x 73,9 x 7,8 mm, 180 Gramm
Preis:
849 Euro (UVP)

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Michael Leitner

derfleck

Liebt Technik, die Möglichkeiten für mehr bietet - von Android bis zur Z-Achse des 3D-Druckers. Begeistert sich aber auch für Windows Phone, iOS, BlackBerry und Co. Immer auf der Suche nach "the next big thing". Lieblingsthemen: 3D-Druck, Programmieren, Smartphones, Tablets, Open Hardware, Videospiele

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