Nokia 8 Sirocco im Test: Noch nicht bereit für die Königsklasse
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HMD Global hat mich bisher positiv überrascht. Die finnische Firma, die großteils von früheren Nokia-Managern geführt wird, hat die Marke Nokia erfolgreich mit seinen Retro-Handys gepusht – ein Marketing-Geniestreich. Die zurückgewonnene Popularität wurde aber nicht ausgenutzt, um generische Smartphones teuer zu verkaufen: Die meisten Android-Nokia-Handys haben ein Preis-Leistungs-Verhältnis, mit dem renommierte Hersteller wie Samsung, Sony und LG in den Kategorien der Einsteiger- und Mittelklasse-Geräte nicht mithalten können.
Beim Nokia 8 Sirocco ( N8S) ändert sich das jetzt. Mit einem Preis von 749 Euro ist es in der Premiumklasse angesiedelt und legt sich dort mit den ganz Großen an. Da HMD mit diesem UVP die Konkurrenz kaum unterbieten kann, muss das N8S ihr zumindest ebenbürtig zu sein, um sich den Platz in dieser Königsklasse zu verdienen.
Gleich und doch anders
Das N8S fällt auf den ersten Blick auf. Im Gegensatz zu den anderen 2018er-Android-Spitzenmodellen setzt es nämlich nicht auf ein länger gezogenes Display in 18:9 oder in einem ähnlichen Format, sondern auf das klassische 16:9. Durch diese Breite ist es sehr präsent auf dem Schreibtisch, seht aber gleichzeitig nicht wuchtig aus.
Das Kunststück gelingt durch das links und rechts gebogene Display, wie man es vom Samsung S9 kennt. Zudem ist es mit 7,5mm angenehm dünn – bis auf den wenig eleganten Kamerabuckel. An dieser Stelle ist das N8S 9mm dick.
Beim Material gibt es Spitzenmodell-Standardkost: Vorne und hinten Glas, umrahmt von Metall. Ein nettes Detail ist, dass die Ober- und Unterkante des Aluminiumrahmens poliert ist. Optisch nicht ganz gelungen ist der breite Rand an der linken und rechte Seite zwischen Display und Rahmen. Dieser fällt beim S9 merkbar kleiner aus. Der breite Lautsprecherschlitz oben sieht zwar gut aus, entpuppt sich aber als Flusenfänger, wenn das N8S in der Hosen- oder Handtasche getragen wird.
Handling
Trotz der mittlerweile ungewohnten Breite aufgrund des 16:9-Displays, lässt sich das N8S gut greifen. Das Gesamthandling ist aber suboptimal. Die Glasrückseite ist rutschig (und ein Fingerabdruckmagnet). Der Aluminiumrand steht an seinen Kanten etwas hervor, wodurch der Übergang zwischen Glas und Rahmen nicht ganz fließend ist. Dadurch presst sich der Aluminiumrand ab und zu ungut in die Handfläche bzw. Fingerspitzen.
Die Standby- und Lautstärken-Tasten sind zwar schön im Rahmen integriert, aber sehr flach und etwas klein ausgefallen. Sie sind deshalb nicht gut ertastbar. Der Fingerabdruckscanner an der Rückseite ist gut positioniert. Durch den Kamerabuckel besteht auch keine Gefahr, dass der Finger auf den Linsen statt dem Scanner landet.
Display mit Blaustich
Das N8S nutzt ein pOLED-Display mit 5,5 Zoll und der Auflösung 2560 x 1440 Pixel. Wer beim Wort „pOLED“ an das missglückte Display des Google Pixel 2 XL denkt, ist auf der richtigen Spur. Es gibt wieder den Blaustich, unter dem schon das Pixel 2 XL litt. Kippt man das N8S etwas, verfärbt sich das Display aufgrund des steileren Betrachtungswinkel Blau. Das fällt vor allem bei Websites mit weißem Hintergrund und Apps auf. Bei Fotos oder Videos bemerkt man hauptsächlich, dass sie dunkler werden.
Das alleine wäre nicht so schlimm, schließlich schaut man meistens ohnehin gerade auf das Smartphone. Da aber das Display zur linken und rechten Seite gebogen ist, blickt man nie frontal auf diese Ecken. Das Resultat: Bläuliche Display-Streifen links und rechts. Diese wirken fast wie Schatten. Man gewöhnt sich zwar daran, allerdings nur so lange, bis man wieder ein Samsung Galaxy S9 oder S9+ in Händen hält und sieht, wie es richtig gemacht wird.
Immerhin fällt die Blautönung beim N8S nicht ganz so stark aus wie beim Pixel 2 XL – zumindest nicht beim Gerät, das ich getestet habe. Ähnlich wie beim Pixel 2 XL ist es möglich, dass dieser unerwünschte Effekt, je nach Gerät, unterschiedlich stark ausfällt.
Abgesehen davon ist das Display des N8S sehr gut. Die Schärfe passt, Weiß ist Weißer als bei Samsungs-OLED-Displays und die auch die maximale Helligkeit ist höher. Dadurch lässt sich das N8S auch in der prallen Sonne gut nutzen. Die Farben sind kräftig mit der Tendenz zur Übersättigung. In niedrigeren Helligkeitsstufen kann das Fotos unschön verfälschen. Die automatische Helligkeitsregelung ist beim N8S tendenziell eine Spur zu dunkel, im Test habe ich öfters nachgebessert.
Software
Das N8S ist ein Smartphone mit Android One, also der puren Version von Googles Betriebssystem. Dementsprechend gibt es ein sauberes Android-Erlebnis und keine Bloatware. Auch bei der Mail- und Foto-App kommen die Google-Versionen zum Einsatz. Die einzige von HMD offensichtlich vorinstallierte App ist eine Support-App.
Das N8S hat ein Always-On-Display mit Uhrzeit und Icons für Notifications, das aber standardmäßig deaktiviert ist. Wer will kann es einschalten oder nur für eine bestimmte Zeit nach dem Antippen aktivieren, also das es zB. nur 5 oder 10 Minuten erscheint – was wiederum gegen die Idee eines Always-On-Displays spricht.
Die Umsetzung ist nicht ganz optimal: So werden etwa allgemeine Notifications mit einem Brief-Symbol dargestellt, weshalb man glauben könnte, dass man eine SMS oder E-Mail erhalten hat. Dieses Brief-Symbol taucht etwa auch dann auf, wenn Gmail synchronisiert wird und verschwindet wieder, wenn das Synchronisieren abgeschlossen ist – was anfangs etwas verwirrend ist. Dennoch: Besser ein nicht ganz ausgeklügeltes Always-On-Display als gar nichts. Das N8S verzichtet nämlich auf eine LED-Benachrichtigungsleuchte.
Ausstattung
Im Gegensatz zu vielen anderen 2018er Spitzenmodellen setzt das N8S nicht auf den aktuellen Snapdragon-845-Prozessor sondern auf das Vorjahresmodell 835. Dafür gibt es aber 6 GB RAM und 128 GB internen Speicher. Dennoch hat es einen fahlen Beigeschmack, wenn ein aktuelles Smartphone um 749 Euro die Vorjahres-CPU nutzt. Die Benchmarks liefern folgende Ergebnisse:
3DMark (Sling Shot Extreme ES 3.1/Vulkan): 3662/2730 Punkte
Basemark ES 3.1: 887
PCMark (v2.0): 6999 Punkte
GeekBench (Single-Core/Multi-Core): 1946/6666 Punkte
AnTuTu: 206.849 Punkte
Obwohl der 835-Prozessor genügend Leistung haben sollte und dies auch durch die Benchmarks belegt wird, fühlt sich das N8S manchmal eine Spur langsamer an als das Huawei P20 Pro oder Samsung S9, etwa beim Wechseln von Apps oder dem Scrollen durch Timelines. Vielleicht ist hier noch eine softwareseitige Optimierung durch HMD nötig.
Der Akku ist 3260 mAh groß und hat im Test problemlos vom Aufstehen bis zum Schlafengehen durchgehalten. Meist betrug die Restladung zwischen 15 und 25 Prozent. Der interne Lautsprecher ist laut, die Klangqualität aber nur durchschnittlich. Einen 3,5mm-Klinkenstecker gibt es nicht. USB-C-Kopfhörer und ein USB-C-Adapter sind im Lieferumfang enthalten.
Kamera
Wie viele andere 2018er Spitzenmodelle hat auch das N8S eine Doppelkamera. Die Hauptkamera hat 12 Megapixel, die Zweitkamera hat 13 Megapixel und fotografiert im Tele-Bereich. Dies erlaubt ein Umschalten auf einen optischen 2-fach-Zoom in der App. Keine der beiden Kameras hat einen optischen Bildstabilisator. Besonders bei der Zoom-Linse, die mit F 2.6 eher lichtschwach gegenüber anderen Smartphone-Kameras ist, wäre das ein großer Vorteil gewesen.
Bei guten Lichtverhältnissen gibt es auch gute Fotos, die aber nicht überragend sind. Selbst wenn der Fokuspunkt auf ein Motiv in der Entfernung gelegt wird, ist der Schärfe-Sweetspot etwa bei 3 bis 5 Metern Entfernung. Dadurch sehen Landschafts- und Street-Fotos manchmal ein wenig verwaschen aus, obwohl sie scharf sein sollten.
Im Test wurden viele Bilder bei Schönwetter etwas zu dunkel, hier dürfte die Lichtmessung und der automatische HDR-Modus nicht optimal funktionieren. Zum Glück gibt es den Pro-Modus. Dazu wischt man einfach von der virtuellen Auslöse-Taste nach oben, um ein Radialmenü zu öffnen, mit dem dann die verschiedenen Kameraparameter schnell eingestellt werden können.
Zoomen und wenig Licht
Die Fotos mit der Zoom-Kamera waren im Test fast alle etwas verwackelt, selbst bei guten Lichtverhältnissen. Zudem ist die Belichtung öfters daneben als mit der Standardkamera und die Fotos haben weniger Details. Der „Live-Bokeh“-Modus, bei dem mit einem Schieberegler die Stärke der Hintergrundunschärfe geregelt werden kann, ist auch nicht optimal. Dieser macht zu viel unscharf. Ein direkt von vorne fotografiertes Schild auf Augenhöhe wurde etwa oben und unten unscharf gemacht, obwohl diese Teile des Motivs auf derselben Fokusebene liegen.
Bei Aufnahmen mit wenig Licht liegt das N8S deutlich hinter dem Samsung Galaxy S9+ und Huawei P20 Pro. Das gilt sowohl für Fotos bei Kunstlicht, als auch Aufnahmen bei Dämmerung und Nacht. Meist sind die Farben zu blass und das Bild grieselig. Zudem wirken die Aufnahmen verwaschen, auch wenn sie mal nicht verwackelt wurden. Am Smartphone-Display schauen sie dennoch akzeptabel aus. Die Unzulänglichkeiten fallen erst im Vergleich mit anderen Smartphone-Spitzenmodellen auf.
Fazit
Das Nokia 8 Sirocco ist ambitioniert, aber noch nicht reif für die Königsklasse. Bei einem Preis von 749 Euro sollte man nicht mit der Vorjahres-CPU abgespeist werden, nicht ein Display bekommen, dessen Probleme seit 2017 bekannt sind und eine Kamera erhalten, die zumindest in der Hauptlinse einen optischen Bildstabilisator hat.
Es scheint fast so, als hätte HMD das N8S schon 2017 rausbringen wollen, sich aber um ein Jahr verspätet. So bekommt man jetzt zwar ein gutes Gerät, aber eben nicht eines der Besten, die gerade verfügbar sind. Der Preis von 749 Euro ist deshalb nur schwer zu rechtfertigen, da man im freien Handel ein Samsung Galaxy S9+ um 760 Euro bekommt, bzw. ein S9 um 630 Euro. Das Huawei P20 gibt es ab 580 Euro, das P20 Pro ab 800 Euro. Hätte sich HMD beim N8S an seine bisherige Strategie gehalten mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis zu punkten, würde es um 599 Euro verkauft werden und wäre so eine gute Alternative zu Samsung und Huawei.
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