Bernhard hat den Prototyp des Rollstuhlsimulators bereits getestet

Bernhard hat den Prototyp des Rollstuhlsimulators bereits getestet

© WheelSIM VR

Science

Auch Rollstuhlfahren will gelernt sein

Andreas rollt am Gehsteig entlang. Sein Vorhaben: Sich eine Pizza am nächstgelegenen Standl zu holen. Der Rollstuhlfahrer muss dafür mehrere Randsteine sowie ein kurzes holpriges Stück mit Pflastersteinen bewältigen. Am Schluss gilt es noch, die Hauptstraße auf dem Zebrastreifen zu queren. Sicher steuert Andreas sein elektrisch angetriebenes Gefährt ans Ziel. Geschafft. Er setzt die Virtual-Reality-Brille ab.

Was eine ganz alltägliche Situation für die rund 50.000 Rollstuhlfahrer in Österreich ist, hat Andreas vor wenigen Tagen auf dem ersten  Rollstuhlsimulator durchgespielt, der seine Nutzer komplett in eine dreidimensionale virtuelle Realität versetzt. Dabei handelt es sich um das österreichische Projekt WheelSim VR, das von der gemeinnützigen Organisation Lifetool zusammen mit fünf Projektpartnern entwickelt wird.

Gefahrloses Üben

Ziel des Simulators ist es, Menschen die sichere Benützung eines E-Rollstuhl durch entsprechendes „Trockentraining“ zuhause oder in einer Betreuungseinrichtung zu erleichtern. „Rollstühle sind für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, ein unverzichtbares Hilfsmittel, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen“, erklärt Projektleiter Stefan Schürz im futurezone-Interview. „Gleichzeitig passieren etwa 1800 Unfälle im Jahr, an denen Rollstuhlfahrer beteiligt sind – die Hälfte davon im häuslichen Umfeld, beinahe jeder fünfte im Straßenverkehr.“

Mit dem Simulator, der auf elektrisch angetriebene Rollstühle zugeschnitten ist, soll das Selbstbewusstsein und die kompetente Handhabung gestärkt und so die Sicherheit von Betroffenen, aber auch anderen Verkehrsteilnehmern und betreuenden Personen erhöht werden. Um dies zu erreichen, kommt modernste Virtual-Reality-Technologie zum Einsatz. Da die Personen nach Aufsetzen der abgeschlossenen Brille vollständig in eine real empfundene virtuelle Welt eintauchen, lässt sich das Erlernte viel leichter in die echte Welt transferieren.

Nachweis für Können

Neben dem Üben von Situationen, die vom Steuern des Rollstuhls durch enge Gänge im Eigenheim bis zur Benutzung in Parks und verkehrsberuhigten Fußgängerzonen sowie im hektischen Straßenverkehr reichen, kann die erfolgreiche Absolvierung solcher Szenarien Betroffenen auch helfen, ihre Befähigkeit gegenüber Krankenkassen und Versicherungen zu demonstrieren.

„Die Bewilligung eines E-Rollstuhl hängt in einigen Fällen – etwa, wenn zusätzlich eine Lernbeeinträchtigung existiert – davon ab, ob dem Betroffenen die sachgemäße Benützung zugetraut wird“, sagt Michael Gstöttenbauer von LIFEtool. Der Mathematiker und diplomierte Behindertenpädagoge war bereits für die Vorgängerversion des Rollstuhlsimulators mitverantwortlich, der 2006 für herkömmliche PCs entwickelt wurde. Diese war bis zuletzt das einzige kommerzielle Produkt in dem Bereich.

Bei der Neuauflage, die mit der Software-Firma Netural, Sounddesignern von CCP-Studio sowie dem Kuratorium für Verkehrssicherheit umgesetzt wird, will LIFEtool sicherstellen, dass der Simulator eine möglichst lange Lebensdauer hat. Daher ist die Software auch als modulare Lösung konzipiert. Während die erste Version in deutscher Sprache und für die österreichische Straßenverkehrsordnung inklusive der hierzulande verwendeten Verkehrszeichen optimiert ist, sollen in späteren Versionen weitere Sprachen und länderspezifische Eigenheiten hinzugefügt werden können.

Unterschiedliche Antriebe

Unterstützung kommt auch von der oberösterreichischen Orthopädie- und Rehatechnik-Firma Bandagist Heindl, die hinsichtlich der gängigsten E-Rollstühle und deren Antriebseigenheiten berät. Denn Rollstühle mit einem Frontantrieb verhalten sich auf diversen Untergründen und bei Steigungen anders als solche mit Mittel- oder Hinterradantrieb. Diese physikalischen Eigenheiten hinsichtlich Lenkbarkeit, aber auch im Kurven- oder Bremsverhalten, müssen berücksichtigt werden, um eine besonders realitätsgetreue Simulation zu ermöglichen.

Diesen Anspruch verfolgt auch das Linzer Start-up HOSS Mobility, das einen einachsigen, selbstbalancierten Rollstuhl entwickelt. Es will den Simulator mit dem eigenen Produkt koppeln, um das Erlebnis mittels Bewegungen noch realistischer zu machen.

Richtung stimmt

Ein erstes positives Feedback von Andreas und sieben anderen Rollstuhlfahrern nach Ausprobieren der Testversion stimmt die Entwickler optimistisch. „Alle hatten Spaß und haben den Simulator auch motivierend empfunden. Das freut uns, da wir viel Wert auf spielerische Elemente und verschiedene Schwierigkeitsgrade setzen“, sagt Gstöttenbauer. Ranglisten, um sich mit anderen Rollstuhlfahrern zu messen, und Auszeichnungen für erreichte Ziele sollen die Motivation zusätzlich erhöhen.

Erklärtes Ziel der Projektinitiatoren ist es,  die Lösung auch in einer kostengünstigen Variante für die Benutzung zuhause anbieten zu können. Dabei soll eine mobile VR-Brille zum Einsatz kommen, die mit einem handelsüblichen Joystick bzw. gängigen Rollstuhlsteuerungen gekoppelt werden kann. Aktuell setzen die Entwickler auf die im Handel verfügbaren Modelle der Facebook-Tochter Oculus VR, die auch kabellos verwendet werden können.

Nachhaltige Lösung

Parallel dazu wird es auch eine stationäre Version des Simulators geben, die mit noch besserer Bildqualität für Reha-Einrichtungen, Hilfsmittelanbieter, aber auch Institutionen der AUVA und Krankenkassen vorgesehen ist. Bis Herbst 2020 wird das Projekt von der Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) unterstützt. Nach Projektende will man mit dem Simulator aber auch Geld verdienen, um die Weiterentwicklung sicherzustellen.

Bis dahin werden Testpersonen wie Andreas wohl noch einige virtuelle Kilometer mit dem Simulator fahren und  wertvolles Feedback zur Optimierung der Software geben. Damit der Pizzakauf ums Eck auch tatsächlich eigenständig und sicher klappt.

Diese Serie erscheint in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG).

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Martin Jan Stepanek

martinjan

Technologieverliebt. Wissenschaftsverliebt. Alte-Musik-Sänger im Vienna Vocal Consort. Mag gute Serien. Und Wien.

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