Heute (re.) ins Venedig des Casanova (li.) eintauchen: das Time-Machine-Projekt macht es möglich.

Heute (re.) ins Venedig des Casanova (li.) eintauchen: das Time-Machine-Projekt macht es möglich.

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Science

Big Data soll die Vergangenheit wiedererstehen lassen

Venedig in den frühen Morgenstunden des 26. Juli 1755: Polizeichef Matteo Varutti verhaftet Giacomo Casanova wegen „Schmähungen gegen die heilige Religion“. Nachzulesen in venezianischen Archivdokumenten, die – sofern man alte italienische Handschriften lesen kann – auch Auskunft darüber geben, dass die venezianische Inquisition Casanova bereits seit Jahren im Auge hatte: Er verschwende Geld seiner Gönner, habe ungenehmigten Umgang mit Ausländern und sei den Freimaurern beigetreten.

Zwei Jahre zuvor, Wien: Casanova wird von einem Keuschheitskommissar beim Wildpinkeln erwischt und wegen Ordnungswidrigkeit abgemahnt. Auch sein Besuch im Spielklub „Zum roten Krebs“ und seine Ausweisung aus Wien 1767 wegen Falschspiels sind in handschriftlichen Akten belegt.

Überall in Europa werden derzeit alte Urkunden, Bilder und Akten gesammelt und digitalisiert. Ziel: Eine Time-Machine. Wenn sie fertig ist, wird jeder zum Beispiel virtuell auf den Spuren Casanovas durch Venedig wandern können und von einer Künstlichen Intelligenz (KI) zu weiteren Städten wie Wien, Prag oder Paris geleitet werden, in denen der große Verführer Spuren in Dokumenten hinterlassen hat.

Der St. Pöltener Historiker Thomas Aigner ist Time-Machine-Mitinitiator und sagt: „Derzeit haben wir das Problem, dass die Digitalisierung von Urkunden oft sehr mühsam ist.“ Seiten müssen mit der Hand umgeblättert werden und das sei zeitaufwendig. „Sind alte Handschriften und Bilder erst einmal gescannt, fehlen uns die Werkzeuge, um die Infos automatisch herauszulesen. Wir haben noch keine große Lösung für eine Volltextsuche in alten Schriften.“

Time-Machine-Mitinitiator Thomas Aigner

Was es braucht? „Eine Künstliche Intelligenz, die mit den historischen Inhalten umgehen kann, so programmiert ist, dass sie Visualisierung selbst machen kann und die aus eingescannten Inhalten sofort die richtigen Verlinkungen ableitet. Der Computer soll automatisch erkennen, was auf alten Bildern zu sehen ist – egal, ob Häuser oder Personen. Auch die Gesichtserkennung muss für historische Fotos perfektioniert werden“, sagt Aigner.

Venedig sei am weitesten: Die dortige Zeitmaschine ist der Nukleus des Time-Machine-Project. „Innerhalb der vergangenen sechs Jahre wurden dort viele Dokumente digitalisiert.“ Geburts-, Sterbe- und Hochzeitsdaten, Akten über Geldgeschäfte und ein- wie auslaufende Schiffe. „Eine Beta-Plattform der Zeitmaschine existiert bereits.“ So könne man am Stadtplan spazieren gehen und sehen, wie Venedig in der Vergangenheit ausgeschaut hat. Personen, die in Steuerlisten oder Akten vorkommen, können bestimmten Häusern zugeordnet werden.

Vergangenheit visualisiert

Nicht nur dort: „Budapest, Paris und Amsterdam haben bereits ihre lokale Time-Machine“, sagt Aigner, der das Projekt hierzulande koordiniert und den Überblick über die mehr als 30 beteiligten österreichischen Initiativen hat: Die TU Wien hat Technologien entwickelt (z.B. einen Multispektralscanner), die Dinge erkennen, die das menschliche Auge nicht sehen kann. Die Uni Innsbruck beschäftigt sich mit Handschriften-Erkennung. Und das Archivnetzwerk Icarus, dessen Präsident Aigner ist, steht hinter der Digitalisierung der Personenstandsbücher in ganz Österreich.

Letztlich sollen alle Einzelprojekte in der Time-Maschine zusammengeführt werden, sodass sie auch zusammenarbeiten. Ein „Google und Facebook der Vergangenheit“ ist die Vision von Projektkoordinator Frédéric Kaplan (Professor für Digitale Geisteswissenschaften an der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne): „Die Time-Machine wird höchstwahrscheinlich eines der am höchsten entwickelten Künstliche Intelligenz-Systeme hervorbringen.“

Die EU scheint ihm zu glauben und unterstützt das Time-Machine-Project im kommenden Jahr mit einer Million Euro. 233 Institutionen (Archive, Universitäten, Museen, darunter der Louvre) aus 33 Ländern beteiligen sich. Und man will mehr: Derzeit rittert das Time-Machine-Project um einen Fördertopf der EU-Kommission. „Zu unserer Überraschung stehen wir als bestgereihtes Projekt in der letzten Runde“, sagt Aigner. Wenn es klappt, steht bis zu eine Milliarde Euro für die Entwicklung der neuen Technologien bereit.

Die Hoffnung dahinter

Die neue Wissensquelle könnte neue Berufe, Dienstleistungen und Produkte in den Bereichen Bildung, Creative Industries und smartem Tourismus kreieren. Kurz: Die Wirtschaft ankurbeln.

Österreich sei gut aufgestellt, sagt Aigner. So soll die Baugeschichte des Stephansdoms in eine virtuelle Zeitmaschine einfließen. Und in das historische Leben niederösterreichischer Dörfer wird man ebenso eintauchen können: „150 Gemeinden haben ihr historisches Material, Akten, Fotos, Filme, etc. bereits eingebracht. KI soll es dann voll- oder halbautomatisch aufbereiten, sodass jeder – um ein Beispiel zu nennen – virtuell durch seinen Heimatort zur Jahrhundertwende spazieren kann. Barrierefrei.“ Aigner weiter: „Das ist eine extrem coole Sache, weil identitätsstiftend. So kann man die eigene Geschichte der unmittelbaren Umgebung erlebbar machen!“

Die Vision: Facebook der Vergangenheit

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Susanne Mauthner-Weber

Noch bin ich ja nicht überzeugt, dass das tatsächlich irgend jemanden interessiert. Für den Fall, dass doch: Seit einem halben Leben beim KURIER. Fad wird mir nur deshalb nicht, weil ich ständig Abenteuer im Kopf erlebe, Besser-Wisser interviewe und mich zumindest auf dem Papier mit Erfindungen, Entdeckungen und Errungenschaften beschäftige. Anscheinend macht das nicht nur mir Spaß - 2012 wurde ich mit dem Staatspreis für Wissenschaftspublizistik ausgezeichnet, 2013 mit dem Kardinal-Innitzer-Preis für wissenschaftlich fundierte Publizistik und 2014 mit dem Inge-Morath-Preis für Wissenschaftspublizistik. Wie gesagt: Falls das wirklich irgendwen interessiert.

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