Martin Hairer

Martin Hairer

© ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Science

"Das Verhältnis zur Realität interessiert Mathematiker kaum"

Martin Hairer wurde 2014 mit der Fields-Medaille auzgezeichnet, die oft als Nobelpreis der Mathematik bezeichnet wird. Sein Fachgebiet sind sogenannte partielle stochastische Differentialgleichungen, die die Entwicklung von Systemen beschreiben, die von Zufällen abhängen. Hairer wird als österreichischer Mathematiker bezeichnet, er hat das Land aber schon mit fünf Jahren verlassen und wurde in Genf ausgebildet.

Heute ist Hairer, der sein Doktorat in Physik gemacht hat, Professor für Mathematik am Imperial College in London. In seiner Freizeit hat er zudem die Audiobearbeitungssoftware "Amadeus" für MacOS entwickelt. Anfang Juni war Hairer auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Institute of Science and Technology Austria in Wien und hat dort einen Vortrag über seine Arbeit gehalten. Die futurezone hatte die Gelegenheit, den Mathematiker im Rahmen dieses Besuchs zu interviewen.

 

futurezone: Sie beschäftigen sich mit partiellen stochastischen Differentialgleichungen, die Systeme beschreiben, die sich zufällig entwickeln. Was ist Zufall mathematisch gesehen?
Martin Hairer: Den Zufall in der Mathematik definiert man einfach durch Verteilungen. Wenn ich würfle, kann ich nicht vorhersagen, was bei einem Wurf rauskommt, aber ich kann sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis eintritt. Was Zufall grundsätzlich ist, ist keine mathematische Frage und hängt auch vom Kontext ab. Etwas kann zufällig sein, weil man nicht genügend Informationen hat, aber Zufall kann auch eine grundsätzliche Eigenschaft sein, wie in der Quantenmechanik zum Beispiel. Sogar wenn man perfekte Information hätte, könnte man dort keine exakten Prognosen machen. Von der Mathematik her kann man das aber genau gleich modellieren und es ist eigentlich egal, woher die Zufälligkeit kommt.

Welche Zufälle interessieren Sie?
Mit einer stochastischen partiellen Differentialgleichung kann man so etwas modellieren wie das Glas Wasser hier. Wenn ich es bewege, dann kann ich nicht genau sagen, was das Wasser machen wird, aber ich kann berechnen - mit einem Computermodell - wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass man diese oder jene Strömung sieht.

Ist das Wetter ein solches System?
Wettermodelle sind auch teilweise stochastische partielle Differentialgleichungen. Die Gleichungen, die in Wettermodellen vorkommen, haben aber nicht die Art von Problemen, die meine Theorie löst. Es sind aber ähnliche mathematische Objekte.

Bei solchen Systemen wurden zuletzt durch maschinelles Lernen Prognoseergebnisse erzielt, die besser sind als bei klassischer Modellierung. Ist das für Sie interessant?
Unter Umständen gilt das auch auf meinem Gebiet. Das Problem mit diesen Methoden, egal ob bei Wettervorhersagen oder bei Molekülberechnungen ist, dass wir sie nicht verstehen. Es funktioniert anscheinend sehr gut, das Problem ist, dass man mathematisch überhaupt nicht versteht warum.

Der Algorithmus als Black Box?
Ja. Man weiß nicht wirklich, was passiert. Mathematisch gesehen ist das ein sehr interessantes Problem - und ein extrem schwieriges. Es wird auch zunehmend wichtig. Wenn ein selbstfahrendes Auto einen Unfall verursacht, dann will man wissen können warum. Die Algorithmen sind zwar nicht extrem kompliziert, der Code ist ja bekannt. Es ist aber sehr schwierig nachzuvollziehen, warum jetzt dieses Ergebnis rauskommt und nicht ein anderes.

Gibt es Grenzen für die Mathematik als Werkzeug für den Erkenntnisgewinn?
Jein. Es gibt mathematische Aussagen, von denen man in einem gewissen Sinn nie wissen wird, ob sie wahr oder falsch sind. Oder anders gesagt, man kann es sich einfach aussuchen. Man kann in beiden Fällen konsistente Mathematik machen. Aber solche Aussagen sind meistens sehr abstrakt und haben nicht direkt etwas mit Modellen der Wirklichkeit zu tun. In der Art von Mathematik, die ich betreibe, in der Analysis oder Wahrscheinlichkeitstheorie, kommen solche Fragen nicht wirklich vor. Hier sind die Aussagen entweder wahr oder falsch und im Prinzip kann man das entscheiden, obwohl es manchmal sehr schwierig sein kann.

Interessiert Sie das Verhältnis der Mathematik zu dem, was wir als Realität wahrnehmen?
Das interessiert Mathematiker eigentlich kaum. Das ist dann eher Physik. Physik ist praktisch genau diese Grenze zwischen der Realität und den mathematischen Modellen. Das gilt auch für die mathematische Biologie oder Informatik. Als reiner Mathematiker befasst man sich recht wenig damit, man studiert mathematische Modelle und sieht schon, was diese Modelle beschreiben. Aber man kann auch Modelle ohne Bezug zur Realität erschaffen. Die Wahrscheinlichkeitstheorie ist noch relativ nahe an der Physik, wenn man in die Zahlentheorie geht, ist einem dann egal, ob es noch einen Bezug zur Realität gibt.

Sie sagen, dass Ästhetik in Ihrer Arbeit eine große Rolle spielt.
Das gilt wohl für die meisten Mathematiker.

Geht es dabei um Symmetrie?
Das muss nicht immer Symmetrie sein. Du machst zum Beispiel eine irre komplizierte Rechnung und auf einmal vereinfacht sich alles und es kommt ein ganz kurzes Ergebnis raus. Manchmal sieht man bei einer großen Rechnung, dass sich alles vereinfachen würde, wenn ein bestimmtes Vorzeichen anders wäre. Dann kann man sich ziemlich sicher sein, dass man da einen Rechenfehler gemacht hat und das Vorzeichen tatsächlich anders sein muss.

Ist diese Schönheit eine Eigenschaft der Natur?
Ich weiß es nicht genau. Das kann auch daher kommen, dass man schon von einfachen Modellen startet. Du startest vom einfachst möglichen Modell, also sollte die Antwort auch einfachst möglich sein.

Martin Hairer

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Woran arbeiten Sie aktuell?
Eines meiner Projekte ist eine Gleichung, die aus der Quantenfeldtheorie kommt. Es ist eine stochastische partielle Differentialgleichung, in der sich sehr viele unendliche Größen gegenseitig aufheben. Wir wollen besser verstehen, warum das der Fall ist.

Solche Renormierungen werden in der Physik häufig gemacht.
Genau. Uns interessiert eine spezielle Gleichung. Die Yang-Mills-Theorie ist eine Grundlage des Standardmodells der Teilchenphysik. Uns geht es um eine stochastische partielle Differentialgleichung, die eine Art wahrscheinlichkeitstheoretische Version der Theorie ist. Die Renormierung, die Physiker in der Quantenfeldtheorie hergeleitet haben, spiegelt sich in der Wahrscheinlichkeitstheorie wieder.

Hat Ihre Arbeit Auswirkungen auf das Standardmodell?
Nicht wirklich. Es geht eher um das mathematische Verständnis.

Welchen Einfluss hatte die Auszeichnung mit der Fields-Medaille auf Ihre Arbeit? Kommen Sie seither überhaupt noch zum Forschen?
Etwas weniger, aber im Alltag hat sich relativ wenig geändert. Man wird öfter eingeladen und soll dann meist auch einen Vortrag für das breitere Publikum machen und nicht nur einen Fachvortrag. Kurz nach der Auszeichnung gab es natürlich einen enormen Rummel, aber der hat sich dann auch schnell wieder gelegt.

Mathe hat einen schlechten Ruf. Viele Schüler fürchten sich geradezu davor. Ist das ein Problem?
Das ist sicher ein Problem. Eventuell könnte man damit anfangen, Schülern besser zu erklären, woher die Mathematik überhaupt kommt. Ich habe den Eindruck, als Schüler sieht man die Mathematik irgendwie vom Himmel fallen und bekommt nie den Eindruck, dass sie von Menschen erschaffen wurde. Vielleicht sollte man Schüler dazu bringen, kleinere Beweise selber zu finden. Wenn sie in die falsche Richtung gehen, kann man einfach ein paar Schritte mitgehen und dann erklären, warum das nicht klappen kann. Schüler beschweren sich oft, dass man in der Mathematik so viel auswendig lernen muss. Aber im Prinzip sollte man überhaupt nichts auswendig lernen. Man sollte sich eher merken, woher die Dinge kommen, damit man es selber herleiten oder entdecken kann. Mir ist bewusst, dass es schwierig ist, darauf basierend Prüfungen zu machen. Das Problem ist, dass Lehrer am Ende des Jahres Noten verteilen sollen.

Gibt es ein Nachwuchsproblem in der Mathematik?
Nein. Es gibt viele gute, junge Mathematiker. Vor allem in der Wahrscheinlichkeitstheorie gibt es jetzt viel mehr exzellente junge Leute als vielleicht noch vor 20 Jahren.

Kennen sie einen guten Mathematikerwitz?
Es gibt ein paar gute Mathematikerwitze. Mir fällt aber leider gerade keiner ein, der auch für Nicht-Mathematiker lustig wäre.

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Markus Keßler

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