Technologie trifft Spiritualität und Feminismus
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In Indien wird Mata Amritanandamayi, besser bekannt unter dem Namen „Amma“ (Mutter), wie eine Heilige verehrt. Aber auch in Europa hat der weibliche Guru, der in der vedischen und hinduistischen Tradition verwurzelt ist, eine große Anhängerschar. Im Geburtsort der Lehrmeisterin, dem kleinen Fischerdorf Vallikavu in der südindischen Region Kerala, befindet sich inmitten von Tropenwald und Flussdelta nicht nur ihr Ashram (Klosteranlage), sondern auch die von ihr gegründete Amrita University. Diese wird in internationalen Rankings mittlerweile als beste Privatuniversität Indiens geführt.
Technische Universität
Am Campus, der nur wenige Minuten vom spirituellen Zentrum entfernt ist, werden Biotechnologie, Ingenieurswissenschaften sowie Management und Ayurveda als Studienfächer angeboten. Auch ein Start-up-Förderprogramm wurde ins Leben gerufen, das bereits 50 Gründungen und 181 Start-up-Ideen hervorgebracht hat. Der Verehrungskult um die 63-jährige Inderin mag darüber hinwegtäuschen, dass diese verblüffend pragmatisch und zukunftsorientiert agiert.
"Wissenschaft und Spiritualität sind zwei Flügel desselben Vogels, die beide notwendig sind, um sich als Gesellschaft weiterzuentwickeln", sagt Amma im Gespräch mit der futurezone. "Technologischer Fortschritt ist unerlässlich. Früher sind in meinem Dorf 40-Jährige an Herzproblemen gestorben, weil sie sich die im Ausland hergestellten, teuren Herzklappen oder die Operation nicht leisten konnten. Da habe ich beschlossen, selber etwas auf die Beine zu stellen."
Zeugnis dieser Bemühungen ist das 1998 mit Spendengeldern gegründete Universitätsspital Amrita Institute of Medical Sciences rund 130 Kilometer nördlich des Ashrams, das sich vor allem auf Herzoperationen, aber auch die Transplantation von Gliedmaßen spezialisiert hat.
Hilfe für Frauen
Weitere Technologie-Initiativen von Ammas universitärem und humanitärem Netzwerk wollen das Leben in entlegenen Dörfern und für Frauen verbessern. Denn diese sind in den patriarchalisch geprägten, ländlichen Strukturen oftmals die doppelt Leidtragenden von fehlender Infrastruktur, Hygiene und Bildung.
Nicht vorhandene Toiletten – in vielen Dörfern ein verbreitetes Problem – bedeuten nicht nur ein hygienisches Risiko, sondern auch ein soziales Stigma für Frauen. Um keine Benimmregeln zu verletzen, müssen sie oft bis zur Dunkelheit warten, um ihr Geschäft draußen verrichten zu dürfen – inklusive damit verbundener Gefahren wie Übergriffen.
Sanitäre Anlagen
In einem Pionierprojekt der an der Universität angesiedelten „Ammachi Labs“ wird Frauen deshalb seit 2014 beigebracht, wie sie eigenständig Toiletten bauen können. In einem Simulator kann zudem mit 18 verschiedenen Werkzeugen trainiert werden. Die frisch ausgebildeten Handwerkerinnen können so nicht nur nötige Arbeiten im Eigenheim erledigen, sondern ihre Dienste auch anderen Dorfmitgliedern entgeltlich anbieten.
"Nach dem Tsunami waren viele Frauen Witwen, andere sind Opfer von körperlichem Missbrauch, kaputten Ehen oder Alkoholismus ihrer Männer. Um die Situation für diese Frauen zu verbessern, müssen wir sie stärken – indem sie Zugang zu Bildung bekommen und ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten können", erklärt Anuradha Iyer von Ammachi Labs im futurezone-Interview. "Ziel ist es, in jedem Dorf zumindest eine Frau zu haben, die als Botschafterin der Veränderung andere mitreißt." In den nächsten zwei Jahren sollen 5000 Frauen ausgebildet werden.
Dorf statt Hörsaal
Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist in Indien enorm. Damit Studierende einen Einblick in die Probleme der ländlichen Bevölkerung gewinnen, sind diese im Rahmen ihres Studiums angehalten, einige Wochen in einem Dorf zu verbringen. Gemeinsam mit der Bevölkerung werden Solardächer installiert, Elektro- und Wasserleitungen verlegt oder ein Müll- und Kompostsystem aus dem Boden gestampft. Auch der richtige Anbau von Lebensmitteln und medizinisches Grundwissen wird vermittelt.
Für Kinder und Jugendliche finden Tablet-Klassen statt, in denen mithilfe von Simulationen, Videos und Spielen Chemie, Biologie und Physik unterrichtet werden. Im Rahmen desLive-in-Labs-Programms, das auch Studierende und Lehrende ausländischer Universitäten ansprechen will, wurden bereits 101 Dörfer besucht. 200 Helfer aus dem Ausland haben an dem Projekt bislang teilgenommen.
Dass die universitäre Ausbildung anwendungsorientierter als in Europa ist, kann auch der 22-jährige Augsburger Julian Baumgärtel bestätigen. Er absolvierte ein Auslandssemester am Indian Institute of Technology in nordindischen Mandi. „Es ging oft um technische Lösungen für soziale Projekte. Mein Jahrgang entwickelte etwa ein SMS-basiertes Frühwarnsystem für Murenabgänge. Man geht hin, sieht sich die Problemstellung vor Ort an und muss dann eine einfache, günstige Lösung finden, die den Menschen vor Ort auch tatsächlich hilft“, erklärt Baumgärtel im Gespräch mit der futurezone.
Spirituelle Rebellin
Der Mädchenanteil im Studiengang Ingenieurswesen sei recht hoch gewesen, erinnert sich Baumgärtel, der regulär an der TU München studiert. Auch auf der Amrita University ist der Mädchenanteil mit 30 bis 50 Prozent selbst in technischen Studiengängen hoch. An der Universität führt man das neue Selbstbewusstsein der jungen Frauen nicht zuletzt auch auf die Vorbildwirkung der Schirmherrin zurück.
"Vielen Leuten ist das in Europa gar nicht so bewusst, aber Amma ist eine Rebellin, die in Indien eine Reihe von Traditionen gebrochen hat. Dass eine Frau in einem Fischerdorf Männer umarmt, war früher undenkbar. Auch weibliche Priesterinnen sind im Hinduismus eigentlich nicht vorgesehen. Sie hat gesagt, Männer können das, aber Frauen auch, also warum nicht“, sagt Iyer.
Wer die charismatische Inderin in Europa live erleben möchte, hat von 15. bis 17. November in München Gelegenheit dazu.
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