© Virtual Vehicle

Simulationstechnik

Virtuelle Körper für mehr Crash-Realismus

Wenn man sich heute Videos von Crashtests ansieht, sieht man oft Crash Test Dummies, die menschliche Insassen inmitten von verbogenem Metall und herumfliegenden Plastik- und Glassplittern repräsentieren. Sensoren an der Oberfläche dieser Puppen messen die Kräfte, die von außen auf den Körper einwirken. Dennoch sind die Puppen robust und können wiederverwertet werden. Doch nicht nur dieser Umstand zeigt einen deutlichen Unterschied zur Realität. Dem Dummy fehlt die Reaktionsfähigkeit eines Menschen, es fehlt ihm an Körperspannung und Bewegung.

Simulation des menschlichen Körpers
In der so genannten Pre-Crash-Phase, also den Sekunden vor dem Aufprall, kann dies eine deutlich veränderte Körperhaltung im Vergleich zu einem realen Menschen bedeuten. In Graz versucht man dieses Problem durch eine immer genauere Simulation des menschlichen Körpers innerhalb eines Fahrzeugs zu beheben. Im Forschungszentrum Virtual Vehicle (auch virtuelles Fahrzeug oder kurz "ViF" genannt) wird der simple Umriss eines Dummy-Körpers etwa um ein Knochengerüst und darüber liegendes Muskelgewebe mit verschiedenen Materialeigenschaften ergänzt. Die virtuellen Muskeln des Modells können während eines simulierten Crash-Tests angespannt werden und den Körper in mehreren Achsen verdrehen.

Sensorenanzug
Mit dem Ziel, den Mensch innerhalb einer Unfallsituation immer realistischer darstellen zu können, wurden über 200 Praxis-Tests durchgeführt. Eine vollständig in einen Sensorenanzug gekleidete Person wird dabei von einem Testfahrer ordentlich durchgeschüttelt, etwa bei Brems- oder Ausweichmanövern. Mehrere Kameras halten die Sensorenpunkte genau im Blick. Auf ähnliche Weise ("motion capture") werden im Film auch die Bewegungen von Darstellern für animierte Figuren - etwa Gollum in "Herr der Ringe" - nachgestellt. Weitere 450 Real-Versuche stehen noch am Plan. Das Mensch-Modell umfasst derzeit nur zwei Bewegungsachsen. In Zukunft sollen es wesentlich mehr werden.

Europäische Erfolgsgeschichte
Sicherheit, Effizienz, Leistbarkeit - diese drei Schlagwörter stehen bei vielen Fahrzeugherstellern im Mittelpunkt ihrer Leistbarkeit. Virtual Vehicle hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch Forschung dafür Lösungswege zu öffnen. Durch weitgehende Virtualisierung sollen Autos, Züge und Flugzeuge schneller, exakter und günstiger getestet werden. Seine Tätigkeiten fokussiert Virtual Vehicle auf vier Teilbereiche: Fahrzeugsicherheit, Elektronik, Energiemanagement und Akustik. Über 200 Mitarbeiter arbeiten mit Partnern aus Forschung und Industrie zusammen, um neue Methoden und Technologien für das Fahrzeug der Zukunft zu entwickeln.

Kooperation Universität und Industrie
Hervorgegangen ist Virtual Vehicle aus einem immer stärkeren Trend zur Virtualisierung in der Fahrzeugentwicklung in den 90er-Jahren. Die TU Graz erkannte, "dass es wesentlich für die Industrie sein würde, diese Schlüsseltechnologie zu beherrschen", erklärt Jost Bernasch, der Geschäftsführer von Virtual Vehicle: "Gerade in der Steiermark, wo Automobilproduktion und Zulieferindustrie zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen gehören, sollte der Wissenstransfer zwischen universitärer Forschung und betrieblicher Entwickung verbessert werden." 2002 gründete die TU Graz deshalb gemeinsam mit AVL List, Magna und Joanneum Research das Forschungszentrum "Virtuelles Fahrzeug". Die Finanzierung kam von der Wirtschaftsförderung des Landes Steiermark.

International führende Institution
Im Laufe der Jahre entwickelte sich das Forschungszentrum zu einer der international führenden Institutionen auf seinem Gebiet. Mit steigender Expertise und Reputation konnten immer mehr EU-Projekte und damit zusammenhängende Fördergelder an Land gezogen werden. Sechs der 14 laufenden EU-Projekte werden von Virtual Vehicle europaweit koordiniert. Auf welcher Erfolgswelle die Grazer schwimmen, zeige auch die Akzeptanzrate von eingereichten Projekten, erklärt Bernasch: "60 Prozent aller Projektanträge, die wir bei der EU eingereicht haben, sind genehmigt worden. Normal ist eine Quote von 25 Prozent." Zu den Industriepartnern von Virtual Vehicle zählen mittlerweile so gut wie alle großen deutschen Automobilhersteller, Airbus, Renault, Samsung, Siemens und viele mehr.

B-Säulen-Crashs ohne Auto
Ein weiteres Beispiel soll veranschaulichen, wie durch eine Entwicklung von Virtual Vehicle enorme Kosten für Autohersteller gespart werden können. Das Forschungszentrum will mit einer neuen Methode Gesamtfahrzeug-Crashtests abschaffen. Ein einzelner Crashtest mit einem Fahrzeug-Prototyp kann teilweise bis zu einer Million Euro kosten. Will man alleine die Auswirkungen eines Aufpralls auf eine Fahrzeugkomponente, etwa die B-Säule eines Autos, überprüfen, stellt dies eine hohe Ausgabe dar.

Statt ein komplettes Modell zu verschrotten, zieht Virtual Vehicle ein virtualles Crashmodell heran und überprüft dabei die Auswirkungen eines Seitencrashs auf die B-Säule im Zusammenhang mit dem restlichen Fahrzeug. Das Ergebnis wird dann auf die Modifizierung des Crash-Blocks angewandt. Dieser wird mit verschiedenen Materialien so geformt, dass alleine eine B-Säule gerammt werden kann und die Deformation genau jener im virtuellen Gesamtfahrzeug-Crash entspricht. Auch das Metall der Türen, das beim Crash auf die B-Säule gedrückt wird, findet im modifizierten Crash-Block seine Entsprechung.

Vertrauen in die Mitarbeiter
Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich der Mitarbeiterstand von Virtual Vehicle verzehnfacht. Ein weiteres Wachstum ist absehbar. Die Mitarbeiter werden im Forschungszentrum als Schlüssel zum Erfolg gesehen. "Wir versuchen Spitzenkräfte aus allen Disziplinen am Zentrum zu halten und weitere Spezialisten aus dem In- und Ausland zu gewinnen. Denn Mitarbeiter, die in der Lage sind, in komplexen, dynamischen Systemen zu denken, ermöglichen Gesamtsystemlösungen. Das ist es, was in der Industrie gefragt ist", meint Bernasch dazu.

Seit 2002 hat Virtual Vehicle rund 900 wissenschaftliche Publikationen hervorgebracht, darunter 182 Diplomarbeiten und 44 Dissertationen. Fachkräfte des Forschungszentrums profitieren von der engen Zusammenarbeit mit Industriebetrieben bei einzelnen Projekten. Nicht selten kommt es auch dazu, dass Mitarbeiter abgeworben werden. Es gäbe aber Personentransfers in beide Richtungen, betont Bernasch. Für das Forschungszentrum ergeben sich dadurch neue Chancen. Die Erweiterung persönlicher Netzwerke verstärke das Gefühl von vertrauensvoller Zusammenarbeit.

Neue Aufgaben
Für die nächsten zehn Jahre sieht Bernasch sowohl die Simulation für die Fahrzeugentwicklung als Betätigungsfeld, als auch neue Gebiete. "Wir widmen uns auch völlig neuen Feldern, wie beispielsweise der Entwicklung von Cloud-Lösungen intelligenter Fahrzeuge, um ein möglichst effizientes Energiemanagement zu entwickeln und den Verbrauch von Energie und damit Emissionen zu reduzieren", meint Hermann Steffan, der wissenschaftliche Leiter von Virtual Vehicle. Geplant ist auch ein Ausbau der Forschung für den Zug- und Nutzfahrzeugbereich und der Transfer von bestehendem Know-How auf den Aerospace-Bereich.

Mehr zum Thema

  • "Virtual Reality"-Sex aus Österreich
  • Steiermark als europäisches Technologie-Vorbild
  • AIT setzt weiter auf Spezialisierung

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

David Kotrba

Ich beschäftige mich großteils mit den Themen Mobilität, Klimawandel, Energie, Raumfahrt und Astronomie. Hie und da geht es aber auch in eine ganz andere Richtung.

mehr lesen
David Kotrba

Kommentare