Wie ein Münchner Start-up Apple und Samsung abhängte
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Die Geschichte des Kopfhörer-Herstellers Bragi sticht in Zeiten unzähliger Hardware Startups heraus. Was externe Betrachter schlicht und einfach als "Hardware-Unternehmen" bezeichnen würden, ist für den dänischen Gründer und CEO Nikolaj Hviid ein zukunftsweisendes "Software-Haus".
Während Hersteller wie Samsung, Google oder Apple zunächst am kabellosen Kopfhörermarkt mit Anlauf- und Lieferproblemen kämpften, punktete das in München ansässige Jungunternehmen mit der Auslieferung kabelloser Kopfhörer, die bis dato unverändert sind und immer noch mit der Konkurrenz mithalten können.
Die futurezone hat sich im Rahmen des Mobile World Congress in Barcelona mit Hviid über sein Produkt "The Dash", Hearables und Edge Computing unterhalten.
Startschuss
2014 stellte ein bis unbekanntes Unternehmen eine neue Produktkategorie vor: zwei separate Ohrhörer, die sich kabellos mit dem Smartphone und miteinander verbinden. Die ersten Produkte wurden vor Samsungs Icon X und Apples AirPods ausgeliefert. Einige Jahre später sind kabellose Ohrhörer nicht mehr wegzudenken - nicht zuletzt auch weil immer mehr Smartphone-Hersteller auf den Kopfhöreranschluss verzichten.
Bragi unterschied sich von seinen Mitbewerbern vor allem dadurch, dass das Unternehmen ohne Marketingbudget und auf Kickstarter startete, binnen kurzer Zeit sein Finanzierungsziel erreichte und "The Dash" im Folgejahr auslieferte. Was Bragi den Kickstarter-Unterstützern versprach, war ausgefallen und grenzte fast schon an Übertreibung: der komplette Verzicht auf Kabeln, einen integrierten Speicher, um auch abseits der Bluetooth-Reichweite seinem Musikgenuss zu frönen, beidseitige Touchcontrols, integrierte Sensoren (inkl. Puls und Beschleunigung) und eine wasserfeste Konstruktion, damit die Ohrhörer beim Schwimmen nicht baden gehen.
Obwohl die Tonqualität des "The Dash" nicht überwältigend war und die Verbindung nur funktionierte wenn sich das damit verbundene Smartphone in der rechten Tasche befand, zeigte Bragi Kompetenzen in vier Entwicklungsbereichen: dezentrale Mini-Computer, die Optimierung von Funkverbindungen, integriertes Hardware-Design und Sensorik, die sich auf Menschen spezialisiert. Neben den über 200 Patenten die in "The Dash" flossen, ist auch das Konzept des Lade-Etuis - eine Aufbewahrungsbox für Ohrhörer, die zugleich als Ladestation und Akku dient - enthalten. Dies ist mittlerweile der Standard aller kabellosen Kopfhörer.
Wachstum
Die Reise ging für Bragi schnell weiter: "The Headphone" wurde als billigeres Gerät vorgestellt, reduzierte den Funktionsumfang aufs Wesentliche und verbesserte den Audioempfang. Das Konzept ging auf: das Jungunternehmen hatte einen Umsatztreiber, mit dem die weiteren Entwicklungsvorhaben finanziert werden konnten.
Betriebssystem-Updates des Bragi-eigenen "BragiOS" folgten; die Integration mit Google Health (um Fitnessdaten abzugleichen), eine Musiksteuerung durch Kopfbewegung und letztendlich auch Amazon Alexa wurden Bestandteile des Softwareangebots des "Hearables" The Dash. Zeitgleich arbeitete das Unternehmen an einer Neuauflage des ersten Kopfhörers: "The Dash Pro" sieht zwar aus wie sein Vorgänger und verfügt über denselben Prozessor, bietet aber eindeutig besseren Komfort, Ton und vor allem eine bessere Bluetooth Verbindung.
Wandel
Nun, wo "The Dash Pro" einen Markterfolg feiern kann, hat sich das Unternehmen im Rahmen des Mobile World Congress als Software-Haus mit Fokus auf Edge Computing und künstliche Intelligenz präsentiert. Ein großer Wandel. Drei Konzepte stehen im Zentrum - Bragi nanoAI, eine KI-Engine die auf leistungsschwache Systeme optimiert ist, BragiOS, ein Betriebssystem für dezentrale Mini-Rechner, und BragiNET, die Infrastruktur zur Mesh-Kommunikation zwischen kleinen, unabhängigen Recheneinheiten, die mittels mehrerer Technologien kommunizieren kann.
Auf einmal wird das kommerzielle Produkt "The Dash" zu einer Testplattform für wesentliche größere Vorhaben: die Entwicklung eines gesamten Systems, das die Berechnung, Bearbeitung und KI-gestützte Analyse weg von den zentralen Servern hin zur Auswertung an die "Kanten" des Netzwerks verlagert (daher auch der Name "Edge Computing").
Das hat mehrere Vorteile: Datenschutz, Effizienz und Anwendungsvielfalt. In Zeiten der Datenschutzgrundverordnung ist es zunehmend wichtig nur die wichtigsten und für den Dienst notwendigen Daten an einen Server zu übermitteln. Aber die meisten personenbezogenen Services können genau das nicht: eine Smartwatch, die per GPS den Laufweg aufzeichnet und durch KI Trainingsvorschläge erteilt, überträgt nicht nur Laufzeit, Lauflänge und ähnliches an einen Server, sondern die genauen Positionsdaten mit Zeitstempel sowie vieler anderer personenbezogener Daten.
Die Auswertung vieler Dienste erfolgt am Server (oder zumindest am mit der Smartwatch verbundenen Smartphone) und stellt ein Datenschutzrisiko dar. Nicht auch zuletzt bei US-Behörden, wo beispielsweise das Ausdauertraining von FBI-Agenten zur öffentlichen Aufzeichnung gesperrter Militärbereiche führte. Durch die Verlagerung der KI-Aufgaben direkt auf das Endgerät plant Bragi Datenschutz garantieren zu können, ohne auf die Vorteile eines lernenden Systems verzichten zu müssen. Einzigartig dabei ist, dass die Systeme miteinander und dezentral lernen können.
Und im Bezug auf Effizienz tut sich auch Einiges: In dem die Auswertung am Endgerät stattfindet, reduziert sich die benötigte Bandbreite um Daten zu übermitteln.
Zukunft
Bragi argumentiert, dass bisher Systeme entweder zur Auswertung von Daten oder als Sensor zur Erfassung von Daten ausgelegt waren. Die wenigsten Systeme können dort wo Daten am besten gesammelt werden (z.B. einem im Schuh integrierten Bewegungssensor) auch diese Daten auswerten. Stattdessen werden sie übermittelt und zentral erfasst. Durch die effiziente Kombination dieser zwei Funktionalitäten auf Embedded-Systemen sollen neue Anwendungsbereiche entstehen: von redundanter, robuster Sensorik in Fahrzeugen bis hin zu Industrieanwendungen und Smart Cities. Das sind große Visionen für ein Hardware-Startup.
Als Basis dazu werden Systeme mit einem 26MHz CPU, 32 Kbyte RAM und 64 Kbyte FLASH verwendet, die sich in Netzwerke mit bis zu 32.000 Geräten verbinden lassen. Vorerst hat das Unternehmen dies aber nur mit zwei kleinen Recheneinheiten - "The Dash" - vorgestellt.
Die (neuen) Ziele des kleinen Münchner Unternehmens sind breit gestreut und unterscheiden sich heute von jenen, die noch vor weniger als vier Jahren die Kickstarter-Seite dominierten. Einst wollte Hviid den gesamten Kopfhörermarkt neu definieren, nun plant er ein wichtiger Bestandteil von IoT zu werden. Im Gespräch mit der Futurezone unterstreicht Hviid, dass ihm dieses Vorhaben aber bereits zu Zeiten der Kickstarter-Kampagne vorschwebte. The Dash war eine Testplattform und The Headphone primär ein Finanzierungstool für das Unternehmen. Und der Bereich Audio war ein Einstieg ins Softwaregeschäft.
Noch dieses Jahr verspricht der Unternehmer gleich mehrere neue Produkte - z.B. ein intelligentes Kommunikationssystem für Baustellen und Arbeitsplätze, das mittels Audiobefehlen funktioniert und intelligenten, KI-basierten Gehörschutz bietet, der bei besonders lauten Geräuschen den Ohrkanal abdichtet. Das deutet darauf hin, dass die weiteren Schritte von Bragi ebenso kalkuliert sein dürften, wie die Entstehungsgeschichte der Firma: Bragi bleibt im Bereich Hearables, verändert nur kleine Teile der Software und steigt Schritt für Schritt in neue Märkte ein.
In der Zwischenzeit kann man sich mit “The Dash Pro” ein eigenes Bild machen: zwei Mini-Computer, die eigenständig agieren. Die Systeme sind noch nicht perfekt, doch mit jedem Software-Update werden sie besser. Und eines ist verblüffend: die Wandlung Bragis vom Kickstarter-Projekt zum Softwarepionier ist keinesfalls selbstverständlich.
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