Meinung

Aber in zwanzig Jahren!

Es ist ein Blog, in dem Leute über den merkwürdigen Alltag mit Technik und ihre Erinnerungen daran schreiben. Angefangen hat es mit zwei Gesprächen über die schwierige Rekonstruierbarkeit einfacher Gewohnheiten: Wie hat man eigentlich das gemacht, was man jetzt mit dem Smartphone macht, bevor es Smartphones gab? Und: Mit welchen Argumenten war man 1998 für oder gegen Mobiltelefone? Initiatorin Kathrin Passig schrieb dann bei Facebook „Eigentlich müsste man eine Art Techniktagebuch führen und aufschreiben, was man gerade wie macht und warum.” Der Rest hat sich ergeben.

Auf Rollen aus dem Flugzeug

Das im Februar 2014 gestartete Techniktagebuch wird inzwischen von mehr als 200 Autorinnen und Autoren mit Erfahrungen im Umgang mit Alltagstechnik - unter besonderer Berücksichtigung der digitalen Varianten - gefüttert. Die meisten Schreiber waren erst Leser, ein paar von ihnen wurden ausdrücklich eingeladen, zum Beispiel Thomas Wiegold, als er davon berichtete, dass sein erstes Mobiltelefon 20 Kilo wog und auf Rollen aus dem Flugzeug geschoben wurde. Weil man Techniktagebucheinträge rückdatieren kann, reichen die Erinnerungen zurück bis in die Zeiten, als die Computer noch Lochkarten fraßen.

Motto des Blogs ist „Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in zwanzig Jahren!“ Was wird dann sein? „In 20 Jahren“, sagt Bachmann-Preisträgerin Passig, „werden wir vergessen haben, dass es 2015 immer noch teuer, kompliziert und oft gar nicht möglich war, im Urlaub, im Zug oder in deutschen Hotels Internet zu bekommen. Das kann man dann im Techniktagebuch nachlesen.“ Das Techniktagebuch ist ein Blog, aber man kann es auch als Buch lesen – als E-Book. Für ein Papierbuch ist es mit über 5.000 Seiten zu umfangreich. „Eigentlich wollte ich vor allem mal ausprobieren, wie das ist, selbst ein E-Book zu machen. Techniktagebuch-Autor André Spiegel hat völlig zu Recht eingewendet, dass das Blogformat praktischer ist als jede Buchversion: Das Blog ist immer auf dem aktuellen Stand.“

Ziemlich viele Knöpfe

Der Medienwissenschaftler Clay Shirky sagt, dass man zum Publizieren heute nur noch einen Knopf drücken müsse, aber bis das E-Book fertig war, musste Passig ziemlich viele Knöpfe drücken. „Aber was das Blog angeht, hat Shirky recht, und auch bei vielen anderen Plattformen fürs Schreiben ist der Unterschied zwischen privatem Schreiben, Arbeit mit Coautoren und Öffentlichkeit wirklich nur ein Schieberegler.“

Ob es einen Lieblingsbeitrag gebe? „Hunderte. Wenn ich einen herausgreifen soll, dann vielleicht einen vom Juli 2007, in dem mein Freund mir erklärt, dass er jetzt in einer „web 2.0 online community” namens Facebook ist. ‚Man kann dort ein Aquarium haben und Fische kaufen. Das wollte ich dann auch.‘ Ich sage, ich hätte davon schon gehört, es aber bisher für ‚was sehr Langweiliges‘ gehalten.“

Dinge, die gestern noch nicht da waren

Angenehmerweise schließen sich Nostalgie und kulturgeschichtliches Interesse nicht aus. Das Techniktagebuch funktioniert durch seine Rückdatierungsmöglichkeit in mancher Hinsicht wie Nostalgieforen, in denen man sich gemeinsam an Eissorten der 70er Jahre erinnert. Von den aktuellen Beiträgen ist die Nostalgie noch weit entfernt, da geht es um Verwunderung. Um Dinge, die gestern noch nicht da waren.

Weshalb sollten Dinge, die keinen Nutzen mehr haben, vor dem Vergessen bewahrt werden? Techniktagebuch-Autorin Pia Ziefle sagt, dass sie bewahrt werden sollen, weil sie unser Verständnis von der Gegenwart mitgeprägt haben. Wir denken nach wie vor von dem aus, was wir haben, hatten, was daran falsch war, was verbessert werden kann. So sind die überholten Dinge die Wurzel dessen, womit wir heute arbeiten.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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