Infamous Second Son im Test: Weniger Comic, mehr Film
Die Infamous-Spiele für die PS3 fielen nicht unbedingt wegen dem Open-World-Gameplay mit Superkräften auf – davon gab es schon damals genügend andere. Das Besondere war die Erzählweise und Inszenierung, die keinen Zweifel an der Vorliebe für Comics der Spielentwickler Sucker Punch ließen. Als Fan von gezeichneten Geschichten hatte man das Gefühl einen Comic zu spielen.
Da aber Comics selbst unter vielen Gamern als nerdig angesehen werden, erreichte der Charme von Infamous nicht alle Spieler. Mit Infamous: Second Son (PS4, ab 16 Jahren) wagt die Serie nicht nur den Sprung auf Next-Gen, sondern wird dabei auch noch erwachsen.
Die Handlung von Second Son ist ist Genre-typisch und könnte so von einem Superhelden-Film stammen. Die Hauptfigur Delsin erhält durch einen Unfall Superkräfte von einem Conduit. Um seinen Stamm (Delsin ist Indianer) zu retten, muss er in Seattle die Oberschurkin stellen. Diese ist gleichzeitig die Anführerin der Regierungsbehörde D.U.P., deren Aufgabe es ist Conduits zu jagen und einzusperren. Die D.U.P.-Truppen haben Seattle zum Sperrgebiet erklärt und sich wie eine Besatzungsmacht in der Stadt breitgemacht.
Wie auch schon der Game Director Nate Fox im futurezone-Interview sagte: Für Second Son waren nicht mehr Comicbücher, sondern aktuelle Comicverfilmungen die Inspiration. Das merkt man als Kenner der Serie sofort. Der Hauptcharakter Delsin wirkt lebendiger und weniger klischeehaft als seine Vorgänger. Die Serien-typische Wahl zwischen Gut und Böse wird dem Spieler durch deutlich realistischere Zwischensequenzen und Dialoge erschwert.
Denn diese Sequenzen zeigen, wie man die Leistung von Next-Gen-Konsolen einsetzen kann. Zwar sind die Charaktere nicht mit fotorealistischen Texturen versehen, dafür wurde aber mit einem speziellen Motion-Capturing-Verfahren die Mimik perfekt eingefangen. Man sieht einzelne Muskeln, die sich im Gesicht anspannen und korrekte Augenbewegungen.
Dazu kommen noch Dialoge von professionellen Sprechern. Diese Kombination aus Mimik und Sprache lässt die Emotionen der Charaktere lebendig werden. Das ist teilweise so eindringlich und intensiv, das man, auch wenn man von Anfang an vor hat böse zu sein und immer die bösen Entscheidungen zu treffen, schon mal innehält und darüber nachdenkt, ob man die anderen Menschen wirklich enttäuschen will.
Diesen Effekt erlebt man nur, wenn man in den Optionen die Sprachausgabe auf Englisch umstellt. Die deutsche Synchronisation ist leider nicht besonders gelungen und zerstört einen Teil des Spielgefühls.
Während alles, was Delsin direkt betrifft, gut erklärt und behandelt wird, ist dies nicht so bei Nebencharakteren. So trifft man im Spielverlauf auf Nebencharaktere, die ebenfalls Kräfte haben. Diese haben eine eigene Hintergrundgeschichte und Persönlichkeit, werden aber nach zwei bzw. drei Missionen regelrecht von der Handlung fallen gelassen.
Dadurch hat man das Gefühl, dass die Entscheidung, diese Nebencharaktere auf die gute oder böse Seite zu ziehen, eigentlich keine Relevanz für das Spiel hat. Vielleicht haben die Entwickler hier versucht Second Son zu sehr wie einen Film zu machen, der sich aufgrund von Zeitmangel nur auf wenige Hauptdarsteller konzentrieren kann.
Zwar kann man so mehr mit Delsin und seinem Werdegang zum Superhelden bzw. –schurken mitfiebern, hat aber gelegentlich das Gefühl, dass Infamous zu gestrafft wurde. Ein paar Nebenmissionen, die mehr auf die anderen Charaktere eingehen, hätten Second Son gut getan.
Rauch und Neon
Das Gameplay von Second Son bleibt seinen Wurzeln treu. Delsin erhält zu Spielbeginn die Kräfte eines Conduits und wird so selbst zu einem. Die erste Kraft ist Rauch. Wie auch schon in Trailern verraten wurde, kommt später Neon hinzu. Es gibt noch weitere Kräfte, die aber aus Spoiler-Gründen hier nicht näher erläutert werden.
Alle Kräfte sind neu und in dieser Form nicht in früheren Infamous-Games vorgekommen. Die Kräfte von Second Son sind relativ ähnlich aufgebaut. Es gibt einen schwachen Schuss und einen starken, dessen Munition beschränkt ist. Bei Rauch und Neon wird mit L1 eine Art Betäubungsgranate geworfen. Die Nahkampfangriffe mit der Quadrat-Taste unterscheiden sich bei den Kräften hauptsächlich durch den Grafik-Effekt.
Die Kämpfe machen Spaß, besonders bei Gegnern, die ebenfalls Conduit-Kräfte haben. So jagt man diese über die Dächer oder wird selbst gejagt. Trotz der Kräfte ist man nicht übermenschlich. Stürzt man sich einfach in eine große Menge von Feinden, geht dies selten gut aus. Besonders auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad können Gefechte eine Weile dauern, da man oft ausweichen und flüchten muss.
Kräfte wechseln
Auch wenn Delsin mehrere Kräfte beherrscht, kann er sie nicht gleichzeitig einsetzen. Man kann nicht den Fernschuss von Neon mit dem Spezialschuss von Rauch kombinieren. Um Kräfte zu wechseln, müssen diese aus der Umgebung gezogen werden. Bei einem brennenden Wrack oder einem Schornstein kann Delsin Rauch bekommen. Neon gibt es – wenig überraschend – von Leuchtschildern.
Mit Rauch ist Delsin noch relativ langsam in der Stadt unterwegs und muss auf seine Kletterkünste vertrauen. Um das Erklimmen von Häusern ein bißchen flotter zu machen, kann Delsin in seiner Rauchform durch Lüftungsschächte sprinten. Gerade bei Kämpfen früh im Spiel ist das eine gute Methode, um schnell zu flüchten und überraschend Gegner von oben anzugreifen.
Mit Neon und der Fähigkeit Wände hinauf zu laufen wird es richtig spaßig. Mit den Fähigkeiten der späteren Kräfte bekommt man das Gefühl die Stadt zu beherrschen. Diese clevere Stückelung und langsame Steigerung der Kräfte lässt den Spieler an Delsins Werdegang vom bedeutungslosen Sprayer zum Superhelden/schurken teilhaben. Ab und zu schiebt Delsin Kommentare, die seine Freude über die Kräfte ausdrücken. Das wirkt authentisch, sympathisch und lässt einen ab und zu grinsen.
Gut oder böse
Die Kräfte werden durch das Einsammeln von Scherben aufgerüstet, die in der Stadt verteilt sind. Im Vergleich zu den Vorgängerspielen ist dies weniger mühsam und besser in den Spielverlauf integriert. Einige Kräfte-Upgrades können nur gewählt werden, wenn eine bestimmte gute oder böse Karma-Stufe erreicht wurde.
Man hat in der Stadt reichlich Gelegenheiten um Karma zu sammeln. Böses Karma kommt durch das Angreifen von Zivilisten, Polizisten, Demonstranten und Straßenmusikern. Gutes Karma gibt es für das Vereiteln von Drogendeals, Retten von Menschen und Befreien von Verdächtigen. Graffitis können in einer bösen oder guten Version gesprüht werden. Zoomt man mit der Neon-Kraft, kann man Feinden gezielt ins Bein schießen (gut) oder in den Kopf (böse).
Dieses System hat einen Vor- und einen Nachteil. Der Vorteil ist, dass man als Held anders und viel vorsichtiger spielen muss, während man als Schurke rücksichtlos für Chaos sorgen kann. So hat man eine neue Perspektive und neue Herausforderung für das zweite Mal durchspielen. Der Nachteil ist, dass es keine Grauzone gibt. Man ist entweder ganz gut oder komplett böse. Wer irgendwo dazwischen ist, kommt nicht in den Genuss der besten Kräfte-Upgrades.
Heimlicher Hauptdarsteller
Second Son ist nicht nur durch die ernstere Story erwachsen geworden, sondern auch durch die neue Location. Statt einer Fantasie-Stadt macht Delsin Seattle unsicher. Die Spielewelt erreicht zwar nicht die Ausmaße von GTA5, ist aber sehr detailliert und liebevoll gestaltet. Selbst nachdem man Second Son durchgespielt hat, kann man immer noch neue Details und Plätze entdecken – sowohl in den Straßen als auch auf den Dächern.
Die Detailliebe wird durch die grafische Leistung der PS4 hervorgehoben. Besonders in der Nacht sieht Seattle durch die Lichteffekte, Neon-Schilder und Reflektionen schöner als in der Realität aus. Selbst einfache Autos können beeindruckend aussehen – wenn man sich die Zeit nimmt sie zu betrachten, anstatt sie zu zerstören. Stichwort zerstören: Fast alles, was die feindlichen D.U.P.-Truppen aufgebaut haben, kann zerstört werden, die eigentliche Stadt aber nicht. So kann man relativ einfach einen betonverstärkten Aussichtsturm einreißen, eine Straßenlaterne oder ein Maschendrahtzaun trotzen aber Delsins Kräften.
Vorbildlich ist, wie die Macher Sucker Punch das Touchpad des DS4-Controllers umgesetzt haben. Es wird genutzt, ohne störend zu sein. Selten aber doch wischt man in eine Richtung um Türen zu öffnen, Sachen anzuheben oder Geschütze zu deaktivieren. Witzig ist das Sprayen. Dabei wird der Controller wie eine Sprühdose gehalten und muss erst geschüttelt werden, bevor die Farbe auf die Wand aufgetragen wird.
Fazit
Infamous: Second Son zeigt, was uns zukünftig auf Next-Gen-Konsolen erwartet. Die Grafik und Zwischensequenzen überzeugen, die Kämpfe sind herausfordernd und machen Spaß und auch die Handlung ist gelungen. Will man die ganze Stadt befreien, ist man zehn bis zwölf Stunden beschäftigt. Das Ganze mal zwei, da man Second Son nochmal böse spielen kann, wenn man vorher gut war und umgekehrt.
Da Second Son sich mehr an Filmen als Comics orientiert, können jetzt Gamer dem Spiel eine Chance geben, die der Infamous-Reihe vorher nur wenig abgewinnen konnten. Kann man etwas mit den Spider-Man-Filmen oder X-Men: First Class anfangen, stehen die Chancen gut Infamous: Second Son zu mögen.