Mit diesen Raketen startet Europas Raumfahrt in die Unabhängigkeit
Gestern wurde ein neues Kapitel in der europäischen Raumfahrt aufgeschlagen. Mit dem zwar verzögerten, aber geglückten Jungfernflug der neuen Rakete Vega-C, macht die europäische Raumfahrtorganisation ESA einen Schritt in Richtung Unabhängigkeit.
Bisher verließ man sich auf die Kooperation mit Russland und deren Sojus-Raketen. Das wurde nun abgebrochen. „Wir sehen eine weltweite Vervielfältigung der Raumfahrtaktivitäten und brauchen Handlungsspielraum in Europa, um hier die Bedürfnisse abzudecken“, sagt Daniel Neuenschwander, Direktor für Weltraumtransport bei der ESA, im Gespräch mit der futurezone. "Wir sind eine moderne Gesellschaft in Europa und wir sind zunehmend abhängig von Daten und damit auch vom Weltraum."
Österreichische Beteiligung
Die kleine Trägerrakete Vega-C soll leistungsfähiger, vielseitiger und wettbewerbsfähiger als ihr Vorgänger sein, heißt es. Gestern hob sie erstmals vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou, Französisch-Guyana, ab (hier lest ihr mehr zum Weltraumbahnhof). Gebaut wird sie von Avio in Italien, 13 Teilnehmerstaaten haben sie entwickelt. Von der österreichischen Firma Peak stammt das Zündergehäuse der dritten Raketenstufe.
Ukrainische Motoren
Vollständig unabhängig ist Vega-C aber nicht. Der Motor für das Triebwerk AVUM+ stammt vom ukrainischen Staatsbetrieb Juschmasch. Und das ist offensichtlich ein Problem. Avio selbst gab im März an, mittelfristig sei man nicht vom Krieg in der Ukraine beeinflusst. Man habe einen „strategischen Vorrat“ an Motoren angelegt. In einem Briefing kommentierte Neuenschwander, 3 Motoren wären bereits geliefert worden. Man suche aber auch nach Alternativen.
Das ist nicht einfach, denn Raketen sind hochkomplexe Systeme, bei denen alle Komponenten präzise aufeinander abgestimmt sind. „Man kann also nicht einfach ein Stück ersetzen, wie bei einem Auto, wo man etwa die Batterie austauscht, und dann fährt es wieder“, sagt Neuenschwander. Immerhin, sagt Neunschwander gestern in einem Briefing, startete Vega-C erstmals mit Kraftstofftanks aus Deutschland. Diese wurden zuvor aus Russland gekauft.
Große Nachfrage
Wie Arianespace bei einem Briefing nach dem gestrigen Start mitteilt, stehen bereits genug Interessenten bereit. 7 Flüge sind schon ausgebucht, 3 davon mit kommerziellen Lasten etwa von Airbus Defence and Space. 4 Flüge werden Forschungsprojekte ins All bringen, darunter Sentinel-1C. Ob man also nach dem geglückten Jungfernflug die angestrebte Kadenz von 4 bis 5 Starts jährlich schafft, bleibt abzuwarten.
Um das Problem zu lösen, arbeitet man an einem komplett eigenen Triebwerk, dem M-10, das AVUM+ ersetzen soll. Es wird mit Flüssigsauerstoff und Methan betrieben. Vorgesehen ist das aber erst für den Nachfolger der Vega-C, Vega-E. Diese soll frühestens 2026 starten. Daher steht und fällt der Erfolg der Vega-C mit der Motorenverfügbarkeit.
Erdbeobachtung
Gestern brachte die Rakete Satelliten mit insgesamt 474 kg Gewicht in den Orbit, die der Forschung dienen. Hauptnutzlast war das italienische Experiment LARES-2 (das Logo der Mission zierte auch die Rakete). Die 295 kg schwere Kugel misst den sogenannten Lense-Thirring-Effekt. Die Rotation der Erde verursacht eine Verzerrung der Raumzeit – das soll LARES-2 beweisen.
Die restliche Ladung bestand aus 6 Cubesats. Trisat-R untersucht etwa die Strahlung am Van-Allen-Gürtel, um zukünftig besseren Schutz zu entwickeln. ALPHA hingegen untersucht die Magnetosphäre der Erde, die Polarlichter und soll Technologien demonstrieren, mit denen die Auswirkung der Strahlung eingeschränkt werden können.
Insgesamt dauerte die Mission mit 2 Stunden und 15 Minuten ungewöhnlich lange. LARES-2 und die Cubesats wurden in etwa 5.900 Kilometer Höhe platziert. Das war ein Härtetest für den wiederzündbaren neuen Antrieb AVUM+. Dafür hat dieser einen entsprechen größeren Tank als sein Vorgänger.
Kommerzielle Nutzung
Vega-C soll aber auch kommerziell genutzt werden können. „Wir bieten die Rakete auf dem globalen Markt an“, sagt Neuenschwander. Dasselbe gilt für die größere neue europäische Rakete, Ariane 6, die 2023 ihren Jungfernflug absolvieren soll. Sie kommt in 2 Versionen: mit 2 (Ariane 62) und 4 Boostern (Ariane 64), also Hilfsraketen.
Damit will man den heutigen Marktbedürfnissen gerecht werden. Amazon-Gründer Jeff Bezos hat bereits 18 Flüge gebucht, die seine Internet-Satelliten ins All bringen sollen. Mit Ariane 6 soll auch das europäische Leuchtturmprojekt Galileo vorangetrieben werden, eine Alternative zum US-kontrollierten Satellitennavigationssystem GPS.
Die ESA-Raketen Vega und Ariane teilen sich Bauteile. P120 ist der Booster von Ariane 6 und gleichzeitig die erste Raketenstufe von Vega-C. „Die Kostensenkung war ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung“, sagt der ESA-Transportchef. Der erste Einsatz des Antriebs ist gestern mit Bravour gelungen.
Warten auf die Nachhaltigkeit
So positiv das klingt, so groß ist auch die Enttäuschung, dass weder Vega-C noch Ariane 6 wiederverwertbare Komponenten nutzen. Schaut man in die USA, hat das Privatunternehmen SpaceX dieses Kunststück mit ihren selbstständig landenden Boostern bereits vollbracht.
Die Vega-C und Ariane 6 wurden 2014 konzipiert, über die Nachhaltigkeit machte man sich erst später Gedanken. Die ESA arbeitet aber an dem wiederverwertbaren Triebwerk Prometheus und an einer Trägerrakete, deren Demonstrator Themis 2020 in Auftrag gegeben wurde. Verantwortlich für die neuen Entwicklungen ist die französische Firma Arianespace, die auch die Ariane-Raketen baut.
Prometheus soll heuer erstmals getestet werden. Für Vega-C und Ariane 6 kommt das selbstverständlich zu spät. „Das Ziel ist natürlich, dass die nächste Generation europäischer Raketen wiederverwertbar ist“, sagt Neuenschwander. Wann diese „nächste Generation“ abheben könnte, ist noch völlig unklar.
Auch das unbemannte Raumschiff Space Rider soll wiederverwertbar werden. Die erste Mission ist für 2023 geplant. Es soll Experimente durchführen, wieder landen und nach der Aufbereitung erneut mit einer Vega-C-Rakete abheben können.
Bemannte Raumfahrt: Entscheidung 2023
Ob die ESA auch Menschen ins All bringen wird, soll sich Ende 2023 entscheiden. „Entweder Europa hat Ambitionen und gibt sich auch Mittel dazu oder nicht“, sagt Neuenschwander. Er ist davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, „bis wir die erste Europäerin auf dem Mond bringen“.
Fraglich ist, ob man dazu eine Schwerlastrakete wie Elon Musks Starship braucht, denn dafür ist in Europa derzeit kein Bedarf. Zuerst muss aber die Markteinführung der neuen Raketengeneration Vega-C und Ariane 6 gelingen.