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Internet

Versteckspiel in den Hintergassen des Netzes

Im Internet tobt ein Glaubenskampf. Die eine Seite, vorwiegend vertreten durch Politik und Wirtschaft, glaubt, dass Menschen im Internet nicht anonym sein sollten. Denn das, so die Argumente, würde Hass, Verbrechen und gefährlichen Ideologien den Weg ebnen. Die andere Seite, vorrangig Wissenschaftler, Bürgerrechtler und Aktivisten, glaubt, dass Menschen im Internet ein Recht auf Pseudonyme haben. Denn nur so hätten Minderheiten - etwa politische, sexuelle oder religiöse  - eine Chance, ungefährdet ihre Meinung im Netz äußern zu können.

Rollenspiele
Ein Realitätscheck zeigt: Echte Namen und Identitäten sind im Internet auf dem Vormarsch. Chattete man Anfang des Jahrtausends noch mit “Susimaus78” und “SuperMax2000”, ist man heute bei Facebook mit Susanne und Max Mustermann befreundet. Auch Google drängt in seinem neuen Online-Netzwerk Google+ auf Klarnamen: Wer ein Pseudonym oder einen Nicknamen eintippt, der darf gelöscht werden. Allein die beiden Web-Unternehmen Google und Facebook konfrontieren so künftig etwa die Hälfte aller zwei Milliarden Internetnutzer mit ihrer Klarnamen-Politik. Doch die „Klarnamen“-Diskussion hat neben dem politischen auch einen kulturellen Aspekt. Wer sich online eine neue Identität gibt, spielt eine ganz eigene, lebensnahe Form des Theaters. Diese Rollenspiele sind Hand in Hand mit dem World Wide Web entstanden: Zwischen Wunscherfüllung und Weltflucht haben sich User ein zweites (Online-)Leben verschafft, in dem sie schöner, reicher, gescheiter, witziger – oder was auch immer sonst sein können. Doch diese spielerische  Form der Identität, die für viele  ein Ventil im Alltag geworden ist,  gerät zunehmend unter Druck. Denn online sind die Menschen noch etwas, das vielen nicht passt: kritischer, mit deutlichem Hang zur Revolution.

Während die beiden größten Web-Dienste der Welt volle Aufmerksamkeit bekommen, gärt es in den Seitengassen des Netzes. Im virtuellen Untergrund steht Anonymität überall dort hoch im Kurs, wo es um Protest, Geld und Sex geht.

Keimzelle
Nachdem die Webseiten von GIS, FPÖ, SPÖ und den Grünen angegriffen wurden, ist auch in Österreich das Hacker-Kollektiv “Anonymous” ins Rampenlicht gerückt. Die international lose organisierte Gruppe kommt aber nicht plötzlich aus dem Nichts, sondern hat ihre Wurzeln auf der Webseite www.4chan.org, wo sich nach Meinung vieler der “Abschaum des Internet” trifft. Bei 4chan wurde Anonymität zur Regel auserkoren. Unter Pseudonymen oder einfach als “Anonymous” laden mittlerweile mehr als elf Millionen Nutzer unzählige Fotos hoch. Für viele von ihnen ist 4chan und vor allem die beliebte Sektion “/b/” ein Ventil: Nirgendwo sonst findet man im Web so viele rassistische, frauenverachtende und beleidigende Kommentare auf einem Haufen wie hier - je vulgärer, desto besser.

"Jeder Mensch hat einen Ort verdient, an dem er daneben sein kann", sagt 4chan-Gründer Christoph Poole, ein 23-jähriger New Yorker. Für seine Nutzer sei Anonymität wichtig: “Wenn man überall unter der selben Identität auftritt, verliert man die Unschuld der Jugend”, so Poole. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hätte es mit seinem Beharren auf echte Identität “komplett falsch” gemacht.

Zweites Leben
So wie 4chan im Jahr 2003 (ein Jahr vor Facebook) entstanden, hat auch “Second Life” die Maskerade zum Grundprinzip gemacht. Der Hype um die virtuelle 3-D-Welt, in die jeder gratis einsteigen kann, ist längst abgeklungen - doch Totgesagte leben länger. Wie neueste Unternehmenszahlen offenlegen, floriert der Handel mit Pixel-Gütern und beschert dem US-Betreiber jährlich Umsätze von mehr als 75 Millionen Dollar. Zwar sinken die Zugriffszahlen leicht, trotzdem loggen sich nach wie vor etwa 800.000 Nutzer regelmäßig bei “Second Life” ein, um in die virtuelle Haut ihres Alter-Egos zu schlüpfen. Während bei Facebook das reale Ich gepflegt wird, leben viele Second-Life-Spieler ihre geheimen Sehnsüchte ud Fantasien aus.

So verwundert es kaum, dass sich unter den meist besuchten Orten dieses Paralleluniversums Plätze wie “Intimate Romance Garden”, “That´s Amore” oder “Fairytale Wedding” gehören. Ein weiterer Hinweis darauf, was die Nutzer neben dem ihrer Schönen ihrer Avatare treiben: 15 Prozent der Second-Life-Einnahmen stammen aus virtuellem Sex.

Sex sells
Virtueller Sex ist auch für eine österreichische Firma zur Haupteinnahmequelle (3 bis 4 Mio. Euro Jahresumsatz) geworden. Heimlich hat es das Innsbrucker Unternehmen ThriXXX zum Weltmarktführer in Sachen 3-D-animierter Porno-Software geschafft. Weltweit mehr als 100.000 Nutzer können mit der ThriXXX-Software ihre Sex-Fantasien mit 3-D-Avataren nachstellen. „Anonymität erleichtert den Einstieg in eine unbekannte Welt, zumal unsere Welten auch noch die sexuelle Komponente beinhalten”, heißt es aus der Innsbrucker Firmenzentrale gegenüber dem KURIER.

Auch bei der von ThriXXX geplanten Online-Community Chathouse3d.com, einer Art “Facebook für 3-D-Sex”, wird Anonymität erlaubt sein. Denn derzeit gebe es noch zu große Vorbehalte gegenüber einer Verknüpfung des eigenen Namens mit intimen Gelüsten. Wer 3-D-Sex will, würde sich für den anonymen Zugang entscheiden.

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Meistens denkt man beim Begriff Avatar an eine virtuelle Spielfigur wie bei “Second Life” oder “World of Warcraft”, wenn von einem Avatar die Rede ist. Tasächlich aber ist das gesamte Internet voller Avatare. Überall dort, wo echte Menschen sich in Internet-Foren, Online-Netzwerken oder Chat-Diensten mit Bild, Namen und Personenbeschreibung (real oder fiktiv) präsentieren, hat man es mit einem Avatar zu tun. Somit ist auch ein Facebook-Profil ein Avatar, also ein virtueller Stellvertreter einer echten Person. Das Wort “Avatara” stammt aus dem Sanskrit. Im Hinuismus wird damit ein göttliches Wesen bezeichnet, das die Gestalt eines Menschen oder eines Tieres annimmt. Viele indische Gurus verstehen sich als Avatare.

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Jakob Steinschaden

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