Abschalten als Menschenrecht
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Die indische Göttin Kali gibt das perfekte Bild für einen von Technologie und Medien getriebenen westlichen Menschen ab. Sie wird als zehnarmiges Wesen dargestellt, die Haut ganz blau - womöglich vor Überanstrengung - und mit einem dritten Auge auf der Stirn, um sich auch dann nichts entgehen zu lassen, wenn das herkömmliche Augenpaar beim Zwinkern einen Augenblick lang geschlossen ist.
Es ist das perfekte Bild für die Angst, etwas zu versäumen. Nicht überall gleichzeitig seine Hände im Spiel haben zu können und übermenschliche Fähigkeiten nötig zu haben. Im Englischen gibt es für das Phänomen ein Kürzel: FOMO steht für „Fear of Missing Out“ – die Angst, etwas zu versäumen.
Jeder heranwachsende Mensch kennt das Gefühl, dass ausgerechnet da, wo man selbst sich gerade befindet, die absolute Ödnis herrscht und irgenwo in der Entfernung das Leben an einem vorbeirauscht. Zu diesen Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens gehört auch, zu lernen, wie man seine Möglichkeiten realistisch einschätzt. Erst versucht man noch, sich möglichst viele Türchen offenzuhalten, um sowohl Lokomotivführer als auch Reitstallbesitzerin wie auch Astronaut werden zu können. Dann zeigt sich, dass mit jeder Entscheidung viele alternative Möglichkeiten wegfallen und das aber auch Erleichterung und Klärung mit sich bringt.
Dann ist man erwachsen, nimmt es zumindest an, und was passiert? Der kindliche Rausch der Möglichkeiten holt einen mit neuer, technisch verstärkter Wucht wieder ein. Die modernen Medien, Computer und allem voran das Internet eröffnen einem nicht einfach nur eine ungeheure Vielfalt neuer Informationsquellen und Handlungsmöglichkeiten. Die Technologien reissen uns mit. Sie fordern unsere Leistungsbereitschaft heraus. Wo deren Grenzen liegen, beginnt sich erst langsam abzuzeichnen, da wir alle noch eigene Erfahrungen in diesem sich ständig erneuernden Bereich sammeln müssen.
Der Mensch – ein großes, dummes Gefühlstier
Schon die Hardware sorgt dafür, dass alles fließt. Der Zwang zum Eingeschaltetsein nimmt stetig zu. Das Standby-Zeitalter glüht uns mit seinen LEDs an. Bald werden wir Maschinen vielleicht nicht mehr mit Ein- und Aus-Knopf zu kaufen bekommen, sondern nur noch mit einer Reißleine, die ein einziges Mal zum Start gezogen wird – und dann läuft der Apparat, bis in alle Ewigkeit.
Ich bin der Auffassung, dass der Ausschaltknopf als ein bedeutendes Menschenrecht gewahrt bleiben muß. Wie sehr uns dieser Knopf bereits ausgetrieben worden ist, zeigt das Smartphone. Zwar verfügt es noch über einen Ausschaltknopf, aber die psychologische Belastung, die das Ausschalten mit sich bringt (angesichts der Möglichkeiten, was man alles versäumen könnte), ist immens. Das Nichtsofortchecken beim Pling!-Ton einer eintreffenden Mail oder Facebook-Statusänderung ist für viele fast so schwierig geworden wie ein Morphiumentzug, denn der Mensch ist ein großes, dummes Gefühlstier. Er hofft. Er hofft, dass Keira Knightley ihn anruft oder Johnny Depp und nimmt den Anruf an; aber am anderen Ende ist wieder nur der nervige Herbert, der sich langweilt oder ein Kunde, der, nachdem man ihm das ausgearbeitete Konzept geschickt hat, nun endlich weiß, was er nicht will.
Weniger als alles befriedigt den Menschen nicht
Hier und da sind sie noch zu beobachten, die Helden, die einfach abschalten. Die anschwellende Mehrheit wird vom „Always on“ vor sich hergetrieben. Online-Junkies, die sich ihre schleichend zunehmende Abhängigkeit oft so lange nicht eingestehen wollen, bis sie ausgebrannt sind. Manche, wie etwa die Professorin und Kommunikations-Koryphäe Miriam Meckel, schreiben dann ein Buch und breiten die Verwechslungsgefahr zwischen Leistungsbereitschaft und nimmersatter Arbeitsgier in Form eines weiteren Arbeitsanfalls aus.
„Mehr! Mehr! ist der Ruf einer im Irrtum befangenen Seele – weniger als alles befriedigt den Menschen nicht", erkannte schon der Dichter William Blake. Wie soll man sich nun behelfen gegen die Zumutungen des Informationszeitalters? Man kann den Vergleich mit der Nahrungsaufnahme machen. Genau wie beim Essen gibt es auch bei der Informationsaufnahme ein Sättigungsgefühl und, wenn man sich überfressen hat, ein virtuelles Völlegefühl. Sich dieses Gefühl bewußt zu machen, ist ein erster Schritt.
Vor eniger Zeit baute ein Team der Event-Agentur „Matterhorn Experience‘‘ aus Zermatt auf 2300 Meter Höhe ein temporäres Luxusrestaurant für die Mitarbeiter eines Pharmakonzerns auf. Neben der Sterneküche genossen die Kunden besonders das stille Dasein im Funkloch. Es gab dort oben keinen Mobiltelefonempfang. Anfangs waren noch manche nervös und suchten nach einem Netz. Aber nach einer Weile schalteten sie ab.
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